
Ukraine und Risiko eines nuklearen Anschlags: In einer Reihe von Telefongesprächen mit Amtskollegen von NATO-Staaten hat der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu davor gewarnt, dass die Ukraine radioaktive Bomben einsetzen wolle. Wie realitätsfremd sie auch sind, haben die Bemerkungen Schoigus den Staub um das Atomrisiko wieder aufgewirbelt. Eine kurze Einordnung.
Die Ukraine ist nicht in der Lage, einen Atomangriff zu verüben: Sie hat ihr Atomarsenal aufgegeben (Budapester Memorandum, 1994). Manche unter ukrainischen und nicht ukrainischen Beobachtern bereuen heute jenen Schritt. Liest und hört man die Zeitzeugen, so erfährt man, dass die Ukraine damals keine andere Wahl hatte.
Besonders ausführlich hat sich darüber der erste Präsident der unabhängigen Ukraine Leonid Krawtschuk geäussert, der den Verzichtsvertrag aushandelte (gezeichnet wurde das Memorandum von seinem Nachfolger Kutschma). Die Ukraine hatte keine Möglichkeit, wirtschaftlich und technologisch den ihr zugeteilten Anteil an sowjetischen Atomwaffen in Stand zu halten.
Ukraine und Risiko eines nuklearen Anschlags: bewegt sich was?
Das einzige Land, die sie dabei hätte betreuen können, war Russland selbst. Das hätte die Unabhängigkeit der Ukraine ernsthaft in Frage gestellt und das Risiko eines nuklearen Anschlags nicht gemindert: Wie unabhängig kann ein Staat sein, der für die Wartung seines Atomwaffenbestands auf Fremde angewiesen ist? Wie sähe der Krieg von heute aus, wenn die Ukraine nukleare Sprengköpfe beherbergte, die von russischer Technik abhängig sind?
Die Ukraine könnte kleinere Sprengkörper einsetzen – diejenigen, die als «schmutzige Waffen» bezeichnet werden. Auf einem anerkannten Waffenmarkt könnte die Ukraine solche Geräte unmöglich beziehen und dabei unbeachtet bleiben. Ob Terroristengruppen oder Schurkenstaaten diese Waffen anbieten, kann nicht bestätigt werden. Kleinere Bomben dieser Art lassen sich auch relativ einfach basteln, aber ein ohnehin begrenzter Atomangriff, wie auch immer verübt, wäre für die Ukraine eine politische Katastrophe mit einem geringen militärischen Vorteil. Die lang und klug erkämpfte westliche Unterstützung fiele sofort aus.
Nun zu Russland. Russland ist eine Atommacht: mit einem Atomrisiko ist jederzeit zu rechnen. Obschon die Strategie Russlands im Allgemeinen klar ist, was Putin und seine Schergen konkret über die nukleare Frage meinen, weiss niemand.
Dass Moskau Atomwaffen einsetzt, bleibt nichtsdestotrotz unwahrscheinlich. Neben den vielen kritischen Punkten technischer und militärischer Natur, erzielt Putin immer noch bessere Gewinne, wenn er das nukleare Argument als Abschreckung angesichts der westlichen öffentlichen Meinung vorgaukelt und nicht in die Praxis umsetzt.
Das mehrfache Telefonieren von Schoigu scheint eben den Zweck zu haben, die Eskalierung des nuklearen Risikos in der Ukraine hin und wieder mal in die Schlagzeilen zu schieben, mit der Absicht, die Front der Westmächte zu brechen und ein schnelles Kriegsende in Form einer Kapitulation der Ukraine unter psychologischem Druck zu erzwingen.