Russland–Ukraine, Annexionen und UN-Abstimmung: Die überwältigende Mehrheit der Mitgliedsstaaten äussert sich gegen den vermeintlichen Anschluss ukrainischer Gebiete. Die Dringlichkeitssitzung vom 12. Oktober hat eine weiterreichende Bedeutung. Als rechtliche Nachfolge der Sowjetunion hat sich Russland an die Grundsätze des Völkerrechts zu halten.
Wladimir Putin wird die vermeintlichen Annexionen im Südosten der Ukraine nicht deswegen rückgängig machen, dass die überwältigende Mehrheit der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen sich dagegen äusserte. Die Dringlichkeitssitzung der UN-Generalversammlung vom 12. Oktober hat dennoch eine weiterreichende Bedeutung.
Die gegenständliche Resolution (ES-11/4) übernimmt Grundsätze des Völkerrechts, die in der Charta der Vereinten Nationen verankert sind. Die Resolution erwähnt weiterhin die Schlussakte von Helsinki (1975): In einem geteilten Kontinent verpflichteten sich die Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ausdrücklich zur Achtung der territorialen Integrität und Unverletzlichkeit der Grenzen der Staaten. Die Schlussakte von Helsinki bekräftigt weitere Grundsätze des humanitären Rechts, der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker.
Russland–Ukraine, Annexionen: UN-Abstimmung und Schlussakte von Helsinki
Es war damals keine Selbstverständlichkeit, die Sowjetunion zu überzeugen, diese Grundsätze in einer gemeinsamen Erklärung mit dem Westen zu bestätigen. Wenige Jahre zuvor hatte das sowjetische Staatsoberhaupt Leonid Breschnew seine Doktrin der «begrenzten Souveränität» verkündet. Nach Breschnews Weltanschauung überwog das Interesse der Aufrechterhaltung des sozialistischen Systems das Selbstbestimmungsrecht der Völker des Ostblocks.
Die Doktrin wurde nämlich als nachträgliche Begründung für die Invasion der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Pakts herangezogen (1968, bekannt als «Prager Frühling»). Das sozialistische System und die Einflusszone Moskaus durften nicht in Frage gestellt werden.
Die Sowjetunion bekannte sich trotzdem zu den Grundsätzen der UN-Charta, die in die Schlussakte von Helsinki übernommen wurden. Letztere inspirierte mehrere Bürgerrechtbewegungen in Osteuropa, darunter die «Charta-77,» zu deren Vaterfiguren der Dramaturg und zukünftige Präsident der Tschechei Václav Havel zählte.
Als rechtliche Nachfolge der Sowjetunion hat sich nun Russland an diese Grundsätze zu halten. Der Versuch Putins, angefangen mit dem Krieg und den vermeintlichen Annexionen in der Ukraine (2014 und 2022), unter Anwendung von Militärgewalt und politischer Einflussnahme das Geltungsgebiet der ehem. Sowjetunion und des Russischen Reichs wiederherzustellen, ist ein deutlicher Verstoss gegen solche Prinzipien.
Im Unterschied zum nationalen Recht, stützt sich das Völkerrecht grundsätzlich auf einen Interessenausgleich und auf die Willenserklärungen der teilnehmenden Staaten. Dass 143 von 193 Länder der UN gegen die willkürlichen Tätigkeiten Russlands in der Ukraine gestimmt haben, beweist, dass die Staaten immer noch ein überwiegendes Interesse darin sehen, dass die Grundsätze der geltenden internationalen Ordnung aufrechterhalten bleiben.
Die Regierungen sind bereit, für diese Grundsätze in einer öffentlichen Abstimmung einzustehen. Deswegen reicht die Bedeutung dieser UN-Abstimmung weit über den Einzelfall des Russland-Ukraine-Kriegs und der gegenständlichen Annexionen hinaus.