
Es mehren sich Analysen und widersprüchliche Einschätzungen des Eklats im Weissen Haus. Dem Wortgerassel Tumps gegenüber, konnte sich Selenskyj mühsam durchsetzen. Es ging im Kern um zwei Fragen: das Friedensabkommen und die militärische Sicherheitsgarantien für die Ukraine nach einer Feuerpause. Die Mitwirkung der Dolmetscher hätte nichts geändert: Es ging hart um Inhalte.
[>Italienische Fassung] – Aus dem Haufen Irrsinn, Wutausbrüche und Windungen Trumps einen geraden Gedankengang zusammenzubasteln, ist ein hoffnungsloses Unterfangen.
Den Hergang der 50-minutigen Pressekonferenz von Donald Trump und Volodymyr Selenskyj am 28 Februar 2025 in Washington kann man erst nachvollziehen, wenn man das Video des Treffens in voller Länge schaut und über genügende Kenntnisse über die Hintergründe verfügt. Die wenigen Minuten, die in den Fernsehapparaten aller Welt liefen, besagen wenig bis nichts.
Es mehren sich Analysen und widersprüchliche Einschätzungen des Eklats im Weissen Haus. Trump scheint an manchen Passagen fast recht zu behalten, als er seine Person als Retter der Ukraine selbstkürt.
Auf sprachliche Feinheiten einzugehen, hilft nicht: Die Pressekonferenz war kein Ort für Courtoisie und diplomatische Gepflogenheiten; keine Rolle spielten das politische Kommunikationsgeschick und die Englischkenntnisse Selenskyjs. Die Mitwirkung der ohnehin vorhandenen Dolmetscher hätte am Geschehen nichts geändert: Es ging nämlich hart um Inhalte. Es stimmt auch nicht, Selenskyj habe zu lange geredet: Dem Wortgerassel Trumps gegenüber, musste Selenskyj mühsam ums Wort kämpfen.
Der Verlauf der Diskussion
Die Diskussion begann anscheinend in gutem Einvernehmen. Selenskyj beunruhigte sich, als es ihm klar wurde, worauf Trump hinauswollte. Der ukrainische Präsident musste feststellen, dass Trump nicht die leiseste Ahnung der Geschehnisse in der Ukraine hatte, eine Täter-Opfer-Umkehr betrieb und dabei unverändert das Narrativ Putins übernahm: schuld am Krieg sei die Ukraine, nicht Russland.
Trump konnte nicht einmal das Datum der Besetzung der Krim durch Russland nennen. Er meinte, die Ukraine sei völlig zerstört. Selenskyj musste die Aussage Trumps peinlich berichtigen: Die Ukraine funktioniert doch, die Menschen arbeiten und die Kinder gehen zur Schule, sie lernen in unterirdischen Klassenräumen oder per Internet. Der ukrainische Präsident musste die Äusserung seines US-Amtskollegen nochmals korrigieren, als Trump behauptete, die USA lieferten der Ukraine mehr Hilfe als die europäischen Länder. Der Einwand Selenskyjs gefiel Trump erkennbar schlecht, er ging auf die Frage nicht ein, aber wiederholte diese falsche Annahme später nochmals.
Auf Fragen, die er nicht beantworten konnte, verwies Trump auf Entscheidungen der früheren Administration Bidens. Er erwähnte belanglose, innenpolitische Fragen oder die Umstände seines persönlichen Wahlerfolgs. Vergebens versuchte Selenskyj zu bekräftigen, dass der Krieg von Russland begonnen wurde; dass es die russische, nicht die ukrainische Armee aufzuhalten und zurückzudrängen gilt. Trump blieb die ganze Zeit bei seiner verkehrten Auffassung der Konfliktverhältnisse.
Kernpunktes eines präsidialen Streits
Die eigentlichen Kernpunkte des Streits zwischen beiden Präsidenten müssen akribisch aus den 50 Minuten der Auseinandersetzung herausdestilliert werden. Es geht im Kern um zwei Fragen: das Friedensabkommen und die militärische Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Das Mineralien-Abkommen blieb im Hintergrund, es kam nur als Vorstufe zu einer möglichen Feuerpause mit anschliessendem Friedensvertrag zur Sprache. Die Unterscheidung ist wichtig: Das Mineralien-Abkommen hat mit dem militärischen Geschehen nicht direkt zu tun; es soll die Kosten der von den USA gelieferten Waffen abdecken und liegt unterschriftsbereit. Ein Friedensabkommen in Verbindung mit einem Waffenstillstand besteht nicht einmal als Entwurf. Bei der Konferenz ging es jedoch hauptsächlich um eine zukünftige Feuerpause im Hinblick auf ein Ende des Kriegs.
Feuerpause und Friedensabkommen
Der US-Vizepräsident JD Vance meldet sich und sagt: Biden hat Putin nur schlecht geredet. Wir wollen mit Russland Diplomatie. Selenskyj erinnert an die vielen Abkommen, die Russland verletzt hat; er weist darauf hin, dass Putin jede Feuerpause dazu genutzt hat, um Russland stärker zu machen und die Ukraine nochmals anzugreifen. Selenskyj schliesst mit dieser Frage ab: «JD, welche Art von Diplomatie meinst du, aus dem Hintergrund dieser Vorgeschichte?»
Hier, völlig ohne Anlass, spitzen sich die Töne zu. Vance hätte seine Argumente ruhig vortragen können, Selenskyj hatte seine Frage sehr gelassen gestellt. Vance gerät aus den Fugen. Er hat erkannt, dass Selenskyj die Achillesferse des ganzen Konstrukts blossgestellt hat. Ausgangspunkt des amerikanischen Friedenskonzepts ist nämlich die Überzeugung Trumps, seine persönliche Vertrauensbeziehung zum russischen Präsidenten sei genug und das Wort Putins sei ernst zu nehmen.
Das Argument hält nicht stand. Eine Journalistin fragt gezielt: Was passiert, wenn Putin die Feuerpause bricht? Trump antwortet: Wenn ich da bin, verletzt Putin keine Feuerpause. Mit mir macht er so was nicht! Konkrete Mittel, die eine Wiederaufnahme von Kriegshandlungen verhindern sollen, nennen Trump und Vance nicht. Da schaut Selenskyj verzweifelt um sich herum. Es ist ihm klar geworden, dass die beiden US-Anführer gar keine Ahnung von dem haben, vorüber sie reden.
Zwei aufschlussreiche Stellungnahmen Trumps
Hier fallen zwei Bemerkungen Trumps, die seine verdrehte Auffassung des Zusammenhangs definitiv ans Licht bringen:
- Will man ein Abkommen, so muss jede Partei auf Zugeständnisse bereit sein. Ohne Zugeständnisse ist ein Abkommen nicht zu haben (diese Aussage übernimmt später auch JD Vance);
- Wenn ich mich nicht nach Putin ausrichte, kriege ich kein Abkommen.
Zu 1) – Trump bezieht sich auf Zugeständnisse beider Seiten: Das heisst, Russland, in der Vorstellung Trumps, hat zwar seine Ansprüche auf die Ukraine herunterzuschrauben, aber es hat doch Ansprüche. Das ist eine grundlegend falsche Auffassung des Kriegsszenarios: Russland hat auf die Ukraine, auf ukrainische Vermögen oder Teilgebiete überhaupt keinen berechtigten Anspruch.
Es besteht daher kein Grund (Puntk 2.), warum die Ukraine, die USA oder wer auch immer sich «nach Putin ausrichten» sollte, egal welches Übereinkommen man anstrebt. Übereinkommen worüber denn, wenn zwischen den Parteien so gut wie kein Streitobjekt besteht? Putin muss seine Armee zurückziehen, für Abmachungen oder Kompromisse besteht kein Raum.
Sicherheitsgarantien: Eine Sackgasse der Logik
Da Russland Feuerpausen nicht einhält, muss jede Abmachung militärisch abgesichert werden. Dafür sind die sogenannten Sicherheitsgarantien gedacht. Selenskyj fragt ausdrücklich Trump: «Ein Abkommen ist ein guter Anfang, aber nun will ich von Ihnen hören, Herr Präsident, was Sie von Sicherheitsgarantien halten. Was sind Sie bereit, zu leisten?»
Trump antwortet mehrmals, dass er über Sicherheitsgarantien nicht reden will. Er will ein Abkommen zustande bringen, Sicherheitsgarantien seien das Einfachste. Selenskyj weiss, dass ein Abkommen mit Russland ohne Sicherheitsgarantien nicht das Papier wert ist, auf dem es geschrieben steht. Er versucht, Trump und Vance davon zu überzeugen, dass die Ukraine Waffen braucht, ein Stück Papier genügt nicht.
Trump gerät in Verwirrung, Vance redet nervös hinein. Nochmals hat Selenskyj einen Schwachpunkt des ganzen Vorhabens der USA zu Tage gebracht: Die Durchsetzung jedes Abkommens mit Russland setzt Sicherheitsgarantien voraus, aber die USA wollen keine leisten und Europa kann nicht davon genug aufbringen: Eine logische Sackgasse.
Selenskyj konnte und durfte nicht schweigen
Während der Pressekonferenz haben Trump und Vance unverschämt gelogen. Das ist allerdings nicht das Schlimmste: Falsche Aussagen kann man berichtigen, was Selenskyj auch versucht hat. Das eigentliche Problem dabei ist, dass den Aussagen Trumps und Vances eine realitätsadverse Weltanschauung zugrunde liegt, und zwar diejenige von Vladimir Putin.
Deswegen konnte und durfte Selenskyj nicht schweigen. Der ukrainische Präsident hätte sonst die Weltanschauung Putins, von Trump unverändert übernommen, stillschweigend gebilligt, und zwar vor laufenden Kameras. Er hätte zugegeben, dass die Ukraine den Krieg verursacht hat; dass nun die Ukraine, nicht Russland, den Krieg beenden muss. Am Tag danach hätten wir in den Zeitungen aller Welt diesen Aufmacher gelesen: «Selenskyj lenkt ein. Am Krieg ist die Ukraine schuld». Von da an, hätten die Amerikaner ein handfestes Argument gehabt, um Selenskyj zum Schweigen zu bringen: «Du hast es selbst gesagt. Die Ukraine hat den Krieg begonnen. Als wir es im Weissen Haus gesagt haben, hast du kaum reagiert.»
Am Ende der Konferenz nutzen Trump und Vance jede Äusserung Selenskyjs als Vorwand für den abschliessenden, dialektischen Angriff, der ins Fernsehen kam. Ein Beispiel dafür ist die Stelle, an der Selenskyj einen Grundsatz der Geopolitik der Vereinigten Staaten erwähnt: Die USA sind durch zwei Ozeane geschützt und müssten deswegen einen Krieg direkt auf ihrem Gebiet nie erleiden. Das stimmt: Bis auf den Angriff von Pearl Harbor (1941) und den Terroranschlag vom 11. September 2001 in New York, haben die USA einen Krieg auf ihrem Bundesgebiet nie erlebt. Egal wie Selenskyj diese elementare Tatsache zum Ausdruck brachte, begründete seine Bemerkung auf keinen Fall die verärgerte Reaktion von Trump und Vance.
Keine neue Geschichte
Die Stellung Selenskyjs in Washington am 28. Februar erinnert mich an die Position des kommunistischen Parteiführers Aleksej Kiričenko, der der höchste Amtsträger der Ukraine als Teilrepublik der Sowjetunion war. 1954, kurz nach dem Tod Stalins, beschloss die sowjetische Führung, die damals zu Russland angehörende Krim der Ukraine zu übergeben. Die Russen hatten festgestellt, dass sie die dürre und rückständige Halbinsel nicht entwickeln konnten. Kiričenko lehnte das vergiftete Geschenk zunächst ab: Die Ukraine konnte die Investitionen für die Modernisierung der Krim nicht schultern.
Angesichts der dreisten Ablehnung bestellte der damalige starke Mann der Sowjetunion, Nikita Chruščëv, den ukrainischen Parteiführer nach Moskau. Dort musste Kiričenko feststellen, dass die sowjetischen Parteigremien schon dabei waren, den Anschluss der Krim an die Ukraine zu beraten und zu beschliessen. Der ukrainische Beamte konnte nichts anderes tun, als einzulenken.
Zurück zur Gegenwart: Vieles deutet darauf hin, dass der Eklat von Freitag im Weissen Haus geplant wurde, mit dem Zweck, Selenskyj zu einem impliziten Schuldbekenntnis am Kriegsausbruch zu zwingen. Selenskyj hat die Falle erkannt und hat sich nicht locken lassen. Man kann bedauern, dass die Pressekonferenz in den letzten Minuten aus dem Rahmen fiel. Wer die Hintergründe kennt, der kann nur sagen, dass Selenskyj den Zynismus und die unerträgliche Frechheit von Trump und Vance viel zu lange duldete und ein bemerkenswertes Mass an Selbstbeherrschung zeigte.
Wollte Selenskyj den Skandal vermeiden, so hatte nur eine Alternative: Aufstehen und den Raum verlassen. Damit hätte er dennoch den dialektischen Sieg Trumps gesiegelt. Der ukrainische Präsident hatte keine andere Wahl, als dem irren Zeug seiner amerikanischen Gesprächspartner punktuell zu widersprechen, so gut wie er konnte.
Militärhilfe und Missverständisse
Nach dem Vorfall in Washington hat Donald Trump die Einstellung der Militärhilfe an die Ukraine verordnet. Am Tag danach hat sich Selenskyj bereit erklärt, das Mineralien-Abkommen doch zu unterzeichnen. Diese Passagen werden von den meisten Kommentatoren in kausalen Zusammenhang gebracht: Da Selenskyj sich «schlecht geführt» habe und das Mineralien-Abkommen nicht zeichnen wollte, hat Trump die Hilfe ausgesetzt; Die amerikanische Hilfe ist der Ukraine unentbehrlich, daher musste Selenskyj die Kröte schlucken und das Mineralien-Abkommen hinnehmen, damit die USA wieder Waffen liefern.
Die Fakten sind zwar in zeitlicher Abfolge miteinander verkettet, aber sie müssen als getrennte Prozesse betrachtet werden. Nach dem Eklat im Weissen Haus hat Präsident Selenskyj das Mineralien-Abkommen nicht unterschrieben; auf das Abkommen hat er jedoch nie verzichtet. Er hat ausdrücklich erklärt, «beim Mineralien-Abkommen keinen Schritt zurück machen zu wollen». Der Streit in Washington und die Einstellung der Militärhilfe hatten, wenigstens bis zum jetzigen Zeitpunkt, keinen Einfluss auf die Position der Ukraine zu diesem Vertrag.
Übrigens ist die Aussetzung der Militärhilfe keine Sofortmassnahme, mit der Trump das Verhalten Selenskyjs bestrafen will. Sie ist ein längst miteingeplantes Erpressungsinstrument, durch das die US-Administration Selenskyj zu einem von Donald Trump – in Absprache mit Putin – organisierten Verhandlungstisch führen will, möglichst nach einem Schuldbekenntnis, mit dem die Ukrainer ihre Freiheitsbestrebung als ursächlich für den Krieg abtun. Das wollte Trump von Selenskyj im Weissen Haus. Der ukrainische Präsident konnte sein Land und sich selbst diesem abwegigen Spiel entziehen.
Wohin mit dem Mineralien-Abkommen?
Nun könnte das Mineralien-Abkommen unterzeichnet werden. Wichtig: Das Mineralien-Abkommen bedeutet noch keine Feuerpause und kein Friedensabkommen. Wie, wann und überhaupt Letztere entstehen, kann niemand erahnen. Es besteht der begründete Verdacht, dass ein Friedensplan bereits jetzt untergründig zwischen Putin und Trump besprochen wird, über die Köpfe der Ukrainer und der Europäer hinweg.
Ob und inwieweit die US-Militärhilfe wieder aufgenommen wird, ist, unter dem Schlussstrich, ein irrelevantes Dilemma. Donald Trump kann jederzeit die Waffenlieferungen drosseln, um Selenskyj dorthin zu zwingen, wo die US-Administration – sprich Putin – ihn führen will. Wir, als Europäer, können die amerikanische Kriegshilfe nur teilweise durch unsere Geräte ersetzen. Bei den modernsten Luftverteidigungssystemen Patriot, dem Aufklärungsnetz und dem sicherheitsdienstlichen Datenaustausch sind wir selbst auf die USA angewiesen.
Wir sind (noch) nicht direkt in die Kriegshandlungen miteinbezogen. Die amerikanische Infrastruktur ist uns trotzdem wichtig: Terrorbekämpfung, Schutz der Unterseekabel, vorbeugende Aufklärung für den Schutz unserer Grenzen wurden über Jahrzehnte hinweg im Rahmen der NATO-Sicherheitsarchitektur entwickelt. Das Erpressungsspiel, das Trump mit der Ukraine treibt, kann er auch mit uns, nicht ohne Erfolgsaussichten, versuchen. Das Verhalten Trumps ist ein grünes Licht für Putin, nicht nur in der Ukraine, sondern in ganz Europa.
Will Russland den Frieden überhaupt?
Es gilt hier noch einmal, auf die Kriegsziele Russlands hinzuweisen. Moskau bezweckt nachweislich die Wiederherstellung des ehemaligen sowjetischen, möglichst des russisch-imperialen Hoheitsgebiets, inklusive Polens und Finnlands also; zugleich strebt Moskau eine politische Bevormundung der europäischen Regierungen an, im Osten und im Westen des Kontinents.
In diesem Zusammenhang kommt der Wortwahl eine wichtige Rolle zu: Unter Frieden verstehen die Russen Kapitulation und Unterwerfung ihrem hegemonischen Konzept, angefangen von der Ukraine. Früher galt diese Sinnverschiebung nur bei der russischen Weltanschauung; mittlerweile haben sich derer auch die Vereinigten Staaten von Amerika angeeignet, und wir liegen dazwischen. Trump tickt wie Putin und beide ticken wie Stalin: Etwas versprechen und dafür der Gegenpartei Zugeständnisse abringen; das Versprochene nicht halten und sich die Zugeständnisse trotzdem behalten.
Während sich in Washington das unwürdige Theaterspiel Donald Trumps und JD Vances gegen den ukrainischen Präsidenten abzog, bombardierten die Russen ein ukrainisches Krankenhaus, voller Patienten. Tote, Verletzte, Verwüstung. Gezielte Drohnenanschläge aus Russland auf ukrainische Privathäuser, Stadtbusse, nichtsahnende Passanten sind Alltag. Wo bleibt der Friedenswille Putins, den Trump, im Auftrag des Kremls, den Ukrainern zu verkaufen versucht?