Warum erklären zwei Wörter eine ganze Welt

Bücher | © Syd Wachs

Die richtige Wortwahl ist mehr als eine rein sprachliche Notwendigkeit – in einem Gespräch unter Freunden, beim Schreiben oder Übersetzen. Der Begriff «offene Gesellschaft» beschreibt unsere Welt und ordnet Fakten ein. Eine relativ junge Erscheinung in unserem Wortschatz wird zum Schlüssel für die Vereinnahmung des globalisierten Weltgeschehens


Der Begriff «offene Gesellschaft» und sein Gegenstück «geschlossene Gesellschaft» erleben im Sprachgebrauch eine neue Blüte. Ihre Spiegelbegriffe in den meistverbreiteten Sprachen lauten: open / closed society (EN); société ouverte / close (FR); società aperta / chiusa (IT); открытое / закрытое общество (RU). Der Begriff kommt oft als Redensart zur Anwendung: Eine «offene Gesellschaft» bestehe dort, wo aufgeschlossene und kontaktfreudige Menschen in einem Umfeld zusammenleben, in dem gegenseitiges Entgegenkommen und ein freier Ideenaustausch entstehen. «Ich war in Thailand, ich bin dort überall nur netten Menschen begegnet: Die thailändische Gesellschaft ist sehr offen.» Eine solche Ausdrucksweise ist im allgemeinen Sprachgebrauch durchaus sinnvoll, obwohl Thailand eben keine offene Gesellschaft ist, zumindest nicht in dem Sinne, mit dem ich mich hier beschäftige und den eigentlichen Stellenwert des betreffenden Begriffs ausmacht.

Die Ursache der häufigeren Verwendung des Ausdrucks «offene Gesellschaft» liegt im Spannungsfeld zwischen den sozialen Wissenschaften – darunter insbesondere der sozialen und politischen Philosophie – der Geschichte der Nachkriegszeit und der fortschreitenden Globalisierung, besonders in den letzten zehn Jahren. Der Begriff stammt vom französischen Philosophen Henri Bergson (1859-1941). Er bearbeitete ihn in seinem letzten Werk Die beiden Quellen der Moral und der Religion (Les deux sources de la morale et de la religion, 1932). Zwei unterschiedliche Modelle von Gesellschaften, die offene und die geschlossene, entstehen – in der Auffassung Bergsons – aus zwei entsprechenden Mustern der Moral, der offenen und der geschlossenen, sowie aus zwei Arten der Religion, der statischen und der dynamischen.

Nach Bergson strebt eine offene Gesellschaft wesentlich mehr als die Selbsterhaltung an. Sie schafft die Bedingungen für die Entfaltung einzelner Individuen, die als Vorkämpfer einer sich ständig erneuernden Menschheit wirken. Eine offene Gesellschaft stellt, nach Bergson, die unaufhaltsame Fortsetzung des ursprünglichen Schöpfungsakts dar. Bei dieser Entwicklung werden die Barrieren zwischen Gesellschaftsgruppen ständig überwunden. Geschlossen ist hingegen diejenige Gesellschaft, die aus in sich verschlossenen, entgegengesetzten Stämmen besteht. Diese ringen um das eigene Überleben und entziehen sich somit einer gemeinsamen Entwicklung.

Die moderne Auffassung

Was Bergson in einem noch mystisch-religiösen Hinblick formulierte, überführte später der Wiener Philosoph Karl Popper (1902-1994) in eine sachlichere Vision der offenen Gesellschaft als Darstellung der Liberaldemokratie: Wer heute den Begriff «offene Gesellschaft» verwendet, denkt am häufigsten an Poppers berühmtes Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Popper erarbeitete dieses 1945 erschienene, monumentale Werk in zwei Bänden während des 2. Weltkriegs in Neuseeland, wo er wegen seiner jüdischen Abstammung Zuflucht fand. Die Schrift entstand nach den Gräueltaten von Nazismus, Faschismus und Kommunismus.

Popper erforscht in diesem Werk die philosophisch-historischen Hintergründe des Autoritarismus, beginnend von der Republik Platos. Er thematisiert die gemeinsamen Nenner der geschlossenen, totalitären Gesellschaften, unabhängig von ihrem ideologischen Vorzeichen. Abschliessend erkennt Popper die objektiven Grundlagen einer offenen Gesellschaft in der freien Entfaltung der kritischen Fähigkeiten des Menschen in einem freien intellektuellen Austausch und in einem nicht vorbestimmten historischen Verlauf. Die geschlossenen Gesellschaften, in ihrem ideologischen Gepräge, hetzen hingegen die unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen mit vorgegebenen Heilsversprechen aufeinander, auf der Grundlage von Rasse, nationaler Angehörigkeit, wirtschaftlichen Dominanz oder Klassenfeindschaft.

Staatsrechtlich, so Popper, entfalten sich offene Gesellschaften in Staaten, in denen Gewaltenteilung und eine ausgewogene Vertretung aller Gesellschaftskomponenten durch die Machtorgane herrschen. Im Gegensatz werden geschlossene Gesellschaften von oben nach unten geführt, ungeachtet des Prinzips der Gewaltenteilung und der gerechten Repräsentanz. Legislative, Exekutive und Judikative, sowie die Medien, der intellektuelle Austausch und die Wirtschaft sind einem obersten Ziel untergeordnet. Der Staat stellt ein vom autoritären bis zum totalitären Gesellschaftsumfeld dar, von einer einzelnen Person oder einem Stamm geführt und von ideologischen-missionarischen Parolen geprägt.

Dies ist der Hintergrund des Begriffs «offene [vs. geschlossene] Gesellschaft». Ein Begriff, der heute immer häufiger in den Vordergrund tritt, weil er das Spiel und Gegenspiel zwischen liberalen und autokratischen Gesellschaften besonders knapp zum Ausdruck bringt, sowie die Spannungen unserer globalisieren Welt. Das lässt in den Überlegungen seines Urhebers Henri Bergson – und noch deutlicher in denen Karl Poppers – einen prophetischen Zug erkennen.

Wir leben in (noch) offenen Gesellschaften

Offene Gesellschaft ist diejenige, die wir im Westeuropa ab dem 2. Weltkrieg erleben. Sie ist, in der tausendjährigen Entwicklung der Menschheit, eine relativ junge Erscheinung. Nie zuvor hat es ein vergleichbares Gesellschaftsmodell gegeben, in dem eine grundsätzliche Chancengleichheit gilt, Rede- und Religionsfreiheit herrschen und die Möglichkeit besteht, sich verhältnismässig frei vertikal und horizontal innerhalb der Gesellschaft zu bewegen. Das Modell ist ständig anpassungsbedürftig und weist Lücken auf, aber die Verhältnisse, die wir heute geniessen, konnten sich unsere Vorfahren, vor nur drei oder vier Generationen, nicht einmal erträumen.

Denkt man, dass die meisten Menschen in einer offenen Gesellschaft leben wollen, liegt man aber falsch. Viele Menschen fühlen sich in einer geschlossenen Gesellschaft besser geschützt. Diese Überzeugung ist nachvollziehbar und doch nicht sinnvoll. Sie wird trotzdem von rücksichtslosen Meinungsführern aufgegriffen und in Losungen für Meiden umgewandelt; sie prägt gesellschaftliche Initiativen und politische Parteien, die fast unvermeidlich Beifall ernten. Die offene Gesellschaft ist eine Grundwertegesellschaft. Die geschlossene baut auf Identitäten auf und bringt das Interesse von Gruppen und Stämmen in den Vordergrund. Besonders in Zeiten von wirtschaftlichen Engen, erkennen die meisten Menschen Letzteres viel schneller, als das Narrativ der Grundwerte, das ihnen eher als vages Versprechen erscheint. Dass ein übermässiges Verstärken von Stammesinteressen und Identitäten langfristig nur zu erhöhten Spannungen führt, die eine gemeinsame Entwicklung verhindern und in verheerenden Konflikten enden, wollen die Befürworter von geschlossenen Gesellschaften nicht hören, solange sie nicht selbst zu Opfern dieser Konflikte fallen.

Oft wird die geschlossene, autoritäre Gesellschaft als «traditionelle Gesellschaft» bezeichnet. Hie und da werden beide Begriffe undifferenziert verwendet. Dieser Sprachgebrauch ist im öffentlichen Diskurs in einigen, voneinander doch sehr unterschiedlichen Ländern zu erkennen. In Russland, Polen und der Türkei, um nur drei Beispiele zu nennen, ist die Rhetorik der «traditionellen Werte» allgegenwärtig. Hinter diesem Schlagwort steckt ein geschlossenes Gesellschaftsmodell nach dem Motto «Gott-Vaterland-Familie.» Ein Muster, das immer noch viele Menschen lockt, die sich mit einer offenen Gesellschaft schwer tun, da diese sich ständig verändert.

Ein weiterer Bestandteil von geschlossenen Gesellschaften sind die konservativsten Flügel der Kirchen. Mit Ausnahme der religionsfeindlichen Regime (z.B. der alten sozialistischen Volksrepubliken im Osten Europas), unterstützen die Kirchen den Autoritarismus und bekommen dafür als Gegenleistung eine entsprechende politische Einflussnahme. So war es z.B. beim italienischen Faschismus und bei den Diktaturen Südamerikas. So ist es heute im Russland Putins. Die geschlossene Gesellschaft entspricht dem bei den Kirchen ohnehin sehr beliebten Gesellschaftsmodell einer streng hierarchisch geführten Organisation. Der offenen, freien Gesellschaft stehen die Kirchen, trotz der formalen Anpassung an die Grundsätze des laizistischen Rechtsstaats, nach wie vor skeptisch gegenüber. Dort, wo sich der Rechtssaat abschwächt, wie in diesen Jahren in Polen und Ungarn der Fall ist, schlagen sich die offiziellen Kirchorgane unvermeidlich auf die Seite der Regierungen. Gegen die Schwächung rechtsstaatlicher Grundsätze hört man von dortigen Bischöfen und Priestern kein einziges Wort. Progressivere Kirchenvertreter, die es zwar gibt, werden an den Rand geschoben.

Die neusten Entwicklungen: Trump, Putin, der Brexit

Seit 2007, dem Jahr, in dem Russland unter Wladimir Putin seine Aussenpolitik grundlegend neu ausrichtete, ist die Kluft zwischen den westlichen Gesellschaften und den für Asien und den Nahen Osten typischen Gesellschaftsmustern noch tiefer geworden. Bei der Einordnung dieser Entwicklungen ist der Begriff «offene / geschlossene Gesellschaft» besonders aussagekräftig. Mit den Militärinterventionen in Georgien (2008), der Ukraine (2014 u. 2022) und Syrien (2015), sowie durch die Allianzen mit dem Iran, der Türkei und einer Reihe von Staaten im postsowjetischen Raum, hat Russland die Federführung einer Bewegung übernommen, die mit ausgeklügelten geistigen und militärischen Mitteln die geschlossene, autoritäre Gesellschaft als einzig zukunftsfähiges Entwicklungsmodell fördert. Die Argumente sind deutlich nationalistisch geprägt und werden in Moskau auf der Grundlage der Werke von Aleksandr Isaevič Solženicyn (1918-2008), Aleksandr Gel’evič Dugin (1962- ) und anderen Autoren konzeptualisiert. Diese Autoren entwickeln faschistisch orientierte Denkmuster; anderorts – z.B. in Nord-Korea, China, Kuba und Venezuela – übernimmt die Selbsterzählung der geschlossenen Gesellschaft Motive aus der marxistisch-leninistischen Überlieferung.

Die Tendenz zur Ablehnung der offenen Gesellschaft macht sich auch in Ländern bemerkbar, in denen man sie nicht erwartet hätte. Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU, der Erfolg der AfD in Deutschland und von Donald Trump in den USA sind Fakten, die sich gegen die Grundsätze der offenen Gesellschaft richten. In Italien, dem Land, in dem aus religiösen und historischen Gründen das im europäischen Vergleich grösste Misstrauen gegen modern gestaltete gesellschaftliche Verhältnisse herrscht, erfreuen sich Meinungsführer, die sich unter dem Vorwand der «traditionellen Werte» für eine stark staatsgelenkte Wirtschaft und für die Bevorteilung einzelner Stämme aussprechen, grossen Zulaufs.

Es ist kein Zufall, dass die Befürworter von geschlossenen Gesellschaften, in Russland wie in Italien, in der Türkei wie in Polen und den USA, erstaunlich gleiche Parolen verwenden, stellenweise sogar in der Wortwahl miteinander identisch. Die Trennlinie zwischen den Bevölkerungsgruppen, die für eine offene Gesellschaft stehen, und denen, die sich vor ihr fürchten, verläuft weit oberhalb der nationalen Grenzen und dem Links-Rechts-Denkmuster der etablierten politischen Landschaft. Schlichtweg keine Rolle spielen auch entgegengesetzte geopolitische Interessen und tief verwurzelte historische Feindseligkeiten, wie der Fall Russland und Polen beweist. Zwei Länder, die eine konfliktreiche Vergangenheit und eine schwierige Gegenwart trennen, vereint doch die Ablehnung der offenen Gesellschaft.

Selbst die offene Gesellschaft kennt Exzesse. Sie kann das Auswuchern von Interessen einzelner Gruppen per se nicht verhindern. Sie bietet aber wesentlich mehr Gelegenheiten, Unterschiede auszugleichen, Abweichungen zu tolerieren und Vielfalt zu integrieren. Ein überzeugenderes Modell konnte sich bisher niemand ausdenken. Die Alternative zur offenen Gesellschaft ist die Diktatur.

Der Begriff «offene Gesellschaft» ist ein Musterbeispiel eines sprachlichen Ausdrucks, der zum Spiegelbild der Veränderungen der menschlichen Zivilisationsgeschichte wird. Ohne diesen jungen Begriff tiefgreifender Wurzel, würde ein grosser Teil des aktuellen Weltgeschehens ungeklärt bleiben.

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Luca Lovisolo DE

Ich wohne in der Südschweiz und arbeite als freiberuflicher Forscher für Recht und internationale Beziehungen. Schwerpunkt meiner Arbeit ist Mittel- und Osteuropa.

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    Luca Lovisolo

    Lavoro come ricercatore indipendente in diritto e relazioni internazionali. Con le mie analisi e i miei corsi accompagno a comprendere l'attualità globale chi vive e lavora in contesti internazionali.

    Tengo corsi di traduzione giuridica rivolti a chi traduce, da o verso la lingua italiana, i testi legali utilizzati nelle relazioni internazionali fra persone, imprese e organi di giustizia.

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