Wer ist der Kremlkritiker, der im Westen als Anführer der russischen Opposition gefeiert wird. Ist er die eigentliche Vaterfigur einer Anti-Regime-Bewegung? Die Fakten im Überblick, seit dem Tag seiner Vergiftung. Die Proteste in Russland nach der Rückkehr Naval’nyjs unterscheiden sich von denen der letzten Jahre. Die Äusserungen Putins und ihre Bedeutung. Der Einfluss der autoritären Staaten nimmt zu.
Die Fakten
Am 20. August 2020 muss das Linienflugzeug, in dem der Kremlkritiker Aleksej Naval’nyj von Tomsk nach Moskau fliegt, notlanden. Dem politischen Aktivisten wird plötzlich schlecht. Bewusstlos und mit Symptomen einer schweren Vergiftung wird er ins Krankenhaus der Stadt Omsk eingeliefert. Zu seiner Behandlung und zur Klärung der Umstände seiner Erkrankung fordern seine Familie und einige Westpolitiker, dass Naval’nyj nach Deutschland verlegt wird. Der Sachverhalt erinnert an den Fall eines anderen russischen Oppositionellen, Pëtr Verzilov. Letzterer war 2008 zum Opfer eines ähnlichen Ereignisses gefallen, mit gleichen Symptomen. Er wurde in der Berliner Charité behandelt und erholte sich nach monatelanger Pflege.
Über den Fall Naval’nyj senkt sich der Rauchvorhang des russischen Regimes. Am 21. August erklären die Omsker Ärzte, beim Patienten sei keine Spur von Giftstoffen festgestellt worden. Die Aussage der russischen Mediziner überzeugt nicht. Sie erscheinen in Anwesenheit von unbekannten Männern in Zivil und Mundschutz; die Funktion dieser Begleiter ist nicht klar, sie gehören allerdings nicht zum Stab des Krankenhauses. Es erhärtet sich der Verdacht, dass das medizinische Personal den Fall Naval’nyj unter Bewachung der Sicherheitsdienste behandelt.
Die russischen Behörden verweigern vorerst die Verlegung des Patienten nach Westen. Am 22. August wird Naval’nyj, unter strengem Polizeischutz, schliesslich in die Berliner Charité eingeliefert. Am 24. August teilen die deutschen Ärzte mit, Naval’nyj sei nicht mehr in Lebensgefahr. In seinem Körper seien Spuren eines Giftstoffes vorgefunden worden. Später erklärt die deutsche Regierung, in einer Pressekonferenz auf Ministerebene, der eingesetzte Giftstoff gehöre nachweislich zur Gruppe der Chemiewaffen Novičok. Naval’nyj ist also kein Opfer einer normalen Vergiftung. Er war Ziel eines Attentats, verübt mit Einsatz einer Chemiewaffe, die wider jedes völkerrechtliche Verbot in Russland weiterhin vorhanden ist. Wenige Tage danach stellen zwei weitere Forschungszentren, in Frankreich und in Schweden, die Anwesenheit von Novičok im Leib Naval’nyjs fest. Novičok kauft man nicht im Supermarkt: Das Präparat ist eine Chemiewaffe, Zugriff darauf hat nur ein übersichtlicher Personenkreis innerhalb der Staatsverwaltung.
Am 17. Januar 2021 kehrt der geheilte Naval’nyj nach Russland zurück. Am Moskauer Flughafen Domodedovo wird er bei der Passkontrolle festgenommen. Naval’nyj sitzt seitdem im Gefängnis der Moskauer Matrosskaja-Tišina-Strasse. Das Gericht verurteilt ihn am 2. Februar 2021 aufgrund eines Entscheids von 2014 zu dreieinhalb Jahren Haft: Wegen seines Aufenthalts im Berliner Krankenhaus habe er gegen die Bewährungsstrafe der Meldepflicht verstossen. Diese Strafe, abzüglich des schon abgeleisteten Hausarrests, muss nun Naval’nyj im Gefängnis absitzen. Die Richter erwarten Naval’nyj bei einem weiteren Verfahren, wegen Beleidigung eines Kriegsveteranen. Das Verhalten der russischen Justizbehörden in Bezug auf den Kremlkritiker wurde bereits 2017 und 2018 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als politisch motiviert gerügt.
Vertreter der Botschaften einiger westlichen Länder rufen die russischen Behörden zur Beachtung der Grundrechte beim Fall Naval’nyj auf und wohnen der Gerichtsverhandlung in Moskau bei. Aus diesem Grund weist die russische Regierung diplomatische Vertreter von Deutschland, Polen und Schweden aus. Demzufolge schieben die drei Länder ihrerseits russische Gesandte ab. Der offizielle Besuch in Moskau des Hohen Vertreters der EU für Aussen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, endet am 6. Februar mit scharfen Tönen seitens des russischen Aussenministers Sergej Lavrov; ihm gegenüber tritt der europäische Vertreter peinlich schwach und unentschlossen auf. Hinter ihm steht ein Europa, dessen Mitgliedstaaten zu einer gemeinsamen Stellung bei den Russland-Beziehungen nicht finden können.
Wer ist Aleksej Naval’nyj
Aleksej Anatol’evič Naval’nyj, Rechtsanwalt, ist kein Politiker im eigentlichen Sinne des Wortes. Er verdankt seine Popularität seinen Internet-Auftritten und dem von ihm geleiteten Untersuchungszentrum gegen Korruption und Misswirtschaft, Fond bor’by s korrupciej («Stiftung für den Kampf gegen die Korruption»). Die Stiftung zählt viele motivierte Mithelfer, darunter die Rechtsanwältin Ljubov’ Sobol’, den ehemaligen Vizeminister für Energie Vladimir Milov und mehrere andere. Gegen alle führenden Mitarbeiter der Stiftung werden regelmässig Festnahmen und sonstige polizeiliche Massnahmen angeordnet, die nach den Massstäben eines westlichen Rechtsstaats schwer zu begründen wären.
Die Aufdeckungsarbeit der Stiftung beunruhigt nicht nur die politische Szene, sie trifft auch die obskure Landschaft der russischen Oligarchen. 2017 veröffentlichte Naval’nyj ein Video mit Hinweisen auf mehrere Immobilien, die zum Eigentum des damaligen Premierministers Dmitrij Medvedev gehören sollen, obschon auf Namen von Strohleuten eingetragen. Fast zeitgleich mit der Rückkehr Naval’nyjs von Deutschland nach Russland wurde ein neues Enthüllungsvideo publik, das in wenigen Stunden Millionen von Zuschauern verzeichnete. Gegenstand der neuen Untersuchung ist ein riesiges Gut am Ufer des Schwarzen Meers, bestückt mit einem pompösen Luxusgebäude. Nach Angaben der Untersuchungsurheber sei das Grundstück ein Besitz von Vladimir Putin, durch Eintragung auf Verwandte und Personen aus seinem engeren Kreis vertuscht.
Naval’nyj gerät oft ins Visier von Polizei und Gerichten: Die Kundgebungen, zu denen er seine Anhänger aufruft, werden von den Behörden nie genehmigt. Er ist besonders bei den russischen jüngeren Generationen in den Grossstädten beliebt. Zu den offiziellen Medien hat Naval’nyj keinen Zugang.
Das Bild Aleksej Naval’nyjs, das sich im Westen herausgebildet hat, entspricht ihm nur teilweise. Man kann ihn wegen seiner Zivilcourage und seines organisatorischen Talents bewundern, der Kontur seines politischen Programms bleibt dennoch unscharf. Seiner Partei Rossija Buduščego («Das Russland der Zukunft») verweigern die Behörden immer noch die amtliche Eintragung. Ihm eine westlich gerichtete Weltanschauung im Sinne einer offenen Gesellschaft zuzuschreiben, scheint voreilig. Seine Äusserungen zum Georgienkrieg und zur Ukraine-Krise lassen Fragen offen, wie seine Stellungnahmen zu den ethnischen Konflikten im postsowjetischen Raum. Am Anfang seiner Karriere, als Mitglied der freiheitlichen Partei Jabloko («Der Apfel»), gab sich Naval’nyj als liberaler Politiker aus. In den letzten Jahren scheint er mehr Aufmerksamkeit für die benachteiligten Schichten der russischen Gesellschaft aufzubringen. Wer in seinen Kursschwankungen Anzeichen von Opportunismus sieht, könnte recht behalten.
Ein Beispiel kann helfen, Naval’nyj genauer zu situieren. In vielen Ländern Südeuropas oder -Amerikas setzten sich zuweilen Richter oder Aktivisten durch, die zu «Antikorruptionshelden» wachsen. Versuchen sie ihr Glück in der Politik, so heben sie sich von ihrer einstigen Rolle nie wirklich ab und können als Politiker kein überzeugendes Programm formulieren. In dieser Schräglage scheint heute Naval’nyj zu stecken. Was er machen würde, sässe er an der Spitze des Staates, wagt niemand vorauszusagen. Ich habe mit Russen gesprochen, die mit Sicherheit keine Putin-Anhänger sind und doch auf die Perspektive einer Naval’nyj-Regierung mit Entsetzen schauen.
Naval’nyj als «Anführer der russischen Opposition»?
Im Westen wird Naval’nyj als «Anführer der russischen Opposition» angepriesen. Die Realität sieht düsterer aus. Einen solchen Anführer gibt es in Russland nicht, denn es gibt auch keine eigentliche Opposition. Die Oppositionellen bilden ein Universum von Bloggern, Aktivisten und Kommentatoren, die, einzeln genommen, keine kritische Masse besitzen. Naval’nyj ist mit Abstand der erfolgreichste und bestorganisierte unter diesen, ein eigentliches politisches Gefüge um sich herum hat er aber nicht, wie auch die anderen Kremlkritiker ausserhalb des russischen Parlaments. Eine Opposition im Parlament besteht zwar, aber sie kann der Linie der Partei Putins Edinaja Rossija («Vereintes Russland») nicht im Wesentlichen widersprechen. Die Oppositionsparteien im Parlament sind dem Moskauer Regime eher ein Gehilfe als eine Gegenseite.
Fazit: Zwischen dem Aktivisten und dem Politiker Naval’nyj läuft eine Trennungslinie. Auf der Seite des Aktivismus sind seine Handlungen nachvollziehbar, auf jener der Politik sind sie eher konturlos. Wer in ihm einen Helden von Demokratie und Rechtsstaat sieht, sollte bis auf Weiteres seine Erwartungen herunterschrauben, wenigstens als Vorsichtsmassnahme. Abbröckelnde Kategorien des politischen Denkens – rechts/links, progressiv/konservativ, Faschismus/Kommunismus – helfen dabei nicht weiter.
Dies vorausgeschickt, liegt das Niederschlagen Naval’nyjs im Interesse des Regimes und der Geschäftsleute – meistens Oligarchen aus der ersten postsowjetischen Stunde, die das Putin-System in unerschütterlicher Treue stützen, nicht ohne grosszügiges Entgelt.
Zur fehlgeschlagenen Vergiftung
Während der Jahrespressekonferenz von Dezember 2020 äusserte sich Putin zum Fall Naval’nyj in erstaunlich dreister Weise: «Hätten wir ihn vergiften wollen, dann hätten wir das auch zu Ende gebracht,» also wir hätten ihn ohne Fehlermöglichkeiten getötet. Putin ist kein irgendwelcher Trump, der russische Präsident legt jedes Wort auf die Goldwaage und äussert sich meistens unmissverständlich. Diese Bemerkung ist nicht zufällig gefallen. Mit ihr meint Putin, jenseits jeglicher Hemmschwelle, dass der Staat töten kann, wen ihm nicht passt. Bei Naval’nyj ist das schief gegangen, aber nun sollen alle anderen aufpassen. Das ist eigentlich nichts Neues, aber nun wurde es höchstpersönlich vom Staatschef bestätigt.
Eine Meisterleistung der Arbeitsgruppe Naval’nyjs war das Telefongespräch zwischen Naval’nyj selbst und einem Mitarbeiter der russischen Sicherheitsdienste, der an seiner Vergiftung beteiligt war. Namen und Telefonnummern der Geheimdienstler, die den Kremlkritiker beschatteten, während seiner Treffen mit Helfern und Anhängern in ganz Russland, hatten einige Tage zuvor Enthüllungsjournalisten veröffentlicht. Am Telefon gab sich Naval’nyj als Mitarbeiter der Geheimdienste aus. Der Beamte am anderen Schnurende erkannte seine Stimme nicht und erzählte ganz einfach den Tathergang. Die Vergiftung war fast gelungen, sagte der Geheimagent. Zu schade, dass der Pilot notlanden wollte und Naval’nyj erst ins Omsker Krankenhaus eingeliefert und dann in Deutschland behandelt wurde. Seine Kleider wurden ihm nicht zurückgegeben, die Ärzte hätten Überreste des Giftstoffes bei seiner Unterwäsche feststellen können (Spuren von Novičok hatte man übrigens im Blut Naval’nyjs und an anderen Gegenständen aus seinem Hotelzimmer festgestellt).
Man wundert sich, wie ein Mitarbeiter der Geheimdienste sich am Telefon auf solche Kommentare einlässt und wie die Beschattung Naval’nyjs durch Geheimagenten sich verhältnismässig einfach nachvollziehen lässt. So verwunderlich ist das in der Tat nicht: Die Qualität der Menschen des Moskauer Regimes entspricht nicht unbedingt seiner angeblichen Grandeur. Die Stärke Russlands liegt in erster Linie darin, dass sich heute niemand in der Welt ernsthaft dem Kreml entgegenstellen will.
Dass das Telefongespräch zwischen Naval’nyj und dem Geheimdienstler gefälscht sei, wie einige wollen, ist schwer zu glauben. Käme zu Tage, dass Naval’nyj das Gespräch vorgetäuscht hat, fiele seine lang erkämpfte Glaubwürdigkeit in Scherben. Die Geheimdienste ihrerseits könnten objektiv beweisen, dass die Stimme auf dem Tonband nicht zu einem ihrer Mitarbeiter gehört, wäre dies der Fall. Das haben sie bisher nicht gemacht. Alles spricht dafür, dass Gespräch und Inhalt echt sind.
Proteste in Russland nach der Rückkehr Naval’nyjs
Die Kundgebungen, die nach der Rückkehr Naval’nyjs in ganz Russland stattgefunden haben, unterscheiden sich von denen der Zeit vor seiner Vergiftung in vielerlei Hinsicht. Die Anzahl der Teilnehmer war diesmal so gross wie noch nie. Die Staatsmedien hatten bisher ähnliche Proteste fast oder überhaupt ignoriert; diesmal haben sie schon am Vorabend darüber berichtet, eindeutig mit dem Ziel, die Bürger davon fernzuhalten. Am Tag der Kundgebungen fielen die Berichte ungewohnt ausführlich aus: Die Nachrichten wurden allenfalls nicht mit Hinweisen auf Sinn und Zweck der Proteste eingeleitet, sondern mit der Auflistung der auf Naval’nyj hängenden Gerichtsverfahren. Über seine Vergiftung, kein Wort. Die Berichterstatter haben gerügt, dass durch Internet-Plattformen wie TikTok zu den Protesten auch Minderjährige aufgerufen wurden. Das war tatsächlich der Fall und es hat für berechtigte Kritik von allen Seiten gesorgt.
Nach der offiziellen Berichterstattung bestanden die Kundgebungen fast ausschliesslich aus verblendeten Jugendlichen und Opfern der westlichen Propaganda. Die Polizei habe in Ohnmacht gefallenen Teilnehmern Hilfe geleistet, Mundschutzmasken verteilt und sonst nichts gemacht. Das mag in einzelnen Fällen stimmen, aber die Bilder, die in den wenigen freien Sendern liefen, erzählten eine andere Geschichte. Der Puškin-Platz in Moskau und die Alleen Sankt-Petersburgs waren schwarz von Bürgern jeden Alters, einer Masse so dicht wie noch nie. Vor den Mikrophonen der Journalisten erklärten viele, es sei das erste Mal, dass sie an einer solchen Kundgebung teilnehmen. Bei den Protesten vom 23. Januar wurden mehr als 3500, bei denen vom 31. mehr als 5000 Demonstranten festgenommen.
Polizeigewalt blieb besonders am zweiten Wochenende nicht aus; da die Plätze in Gefängnissen und Polizeistationen knapp wurden, verbrachten viele Festgenommene Tage und Nächte in überfüllten Bussen und Gefangenentransportern. Bei den Kundgebungen erschienen auch Tochter und Witwe des 2015 unweit vom Kreml getöteten Kremlkritikers Boris Nemcov. Sie trugen eine Mundschutzmaske mit der Aufschrift «Naval’nyj.» Gewaltausbrüche und Vandalismus seitens der Demonstranten beschränkten sich auf Einzelfälle, selbst die Staatsmedien hatten davon wenig zu rügen.
Zum Schlagwort der behördlichen Kritik an die Proteste wurde diesmal ein schwer zu entkräftendes Argument: die Corona-Ausgangsbeschränkungen. Bei den Menschen, die tagelang massenweise in Bussen und Gemeinschaftszellen eingesperrt sassen, schien die Möglichkeit der Virusverbreitung der Regierung doch keine Sorge zu bereiten.
Putin zu den Kundgebungen
Anlässlich eines Treffens mit Hochschulstudenten äusserte sich Putin zu den Kundgebungen in einer für die Rhetorik seines Regimes beispielhaften Weise. Der russische Präsident verglich die Proteste in Russland mit dem Kapitol-Ansturm vom 6. Januar in den USA. Alle Bürger seien frei, ihre Ansichten zu äussern, in Russland wie in den USA, sofern das Gesetz geachtet wird; in den USA haben die Kapitol-Angreifer gegen das Gesetz verstossen und werden nun zu äusserst schweren Strafen verurteilt, das ist selbstverständlich. In Russland sind tausende von Menschen bei nicht genehmigten Veranstaltungen zusammengekommen: Sie haben gegen das Gesetz verstossen, daher ist es genauso richtig, dass sie festgenommen und prozessiert werden.
Dabei verschweigt Putin, dass keine Demonstrationen seiner Kritiker zugelassen werden, was die freie Meinungsäusserung zu einer leeren Grundsatzerklärung macht. Putin «vergisst» auch, dass die Angreifer des Kapitols (darunter – Ironie des Schicksals – einige russische Bürger) keine irgendwelche Meinung äusserten: Sie marschierten mit der erklärten Absicht, die Institutionen zu stürzen und ihre Vertreter zu überfallen; das war in Russland nicht der Fall.
Kein Wunder, dass die Bevölkerung einem Präsidenten solche Argumentationen abkauft. Putin wendet sich an genau profilierte Zuhörer. Die meisten wohnen ausserhalb der grösseren Städte; sie sind glücklich mit ihrem Leben und Ausblick, die nie die Grenzen ihres Dorfes übersteigen. Sie sprechen kein Englisch, besitzen keinen Internet-Zugang. Die Fragen von Journalisten und Reisenden, die sich in jene Weiten begeben, beantworten sie immer mit dem gleichen Satz: Die Rente kommt, wir haben reine Luft und sauberes Wasser hier. Was will man noch?
Die Zielgruppen Putins
Wir im Westen stellen uns kaum vor, wie der Raum ausserhalb der Grossstädte aussieht, in Russland und in grossen Teilen des Ostens. Bei uns hat eine klügere Entwicklung, besonders in der Nachkriegszeit, die Kluft zwischen Stadt und Land längst wettgemacht. Beide Wirtschaftskreise sind miteinander integriert. In Osteuropa treibt die ländliche Bevölkerung immer noch eine Art Subsistenzwirtschaft: Der Bedarf an Lebensmitteln erzeugen sie selbst, das magere Geld für die notwendigen Dienstleistungen wird durch den Verkauf des Überschusses oder mit Verrichtung kleiner Saisonarbeiten erwirtschaftet.
Das Leben auf dem Land bildet einen eigenständigen wirtschaftlichen-sozialen Kreis, der Romantiker und Wachstumskritiker begeistern könnte, aber fatale Einschränkungen bei Bildung, Entwicklung und Weltoffenheit mit sich bringt. Selbst die Sprache klingt dort anders: In Russland kennt man Dialekte im westlichen Sinne nicht, die Mundart unterscheidet sich zwischen Stadt und Land. In Extremfällen können urbane Russen ihre dörflichen Landsleute kaum verstehen, denn das unbetonte o wird nicht zu a, die Endungen der Adjektive stimmen nicht und Konsonanten verblassen ins Unbestimmte. Diese Sprache hat einen geschichtsträchtigen Namen: kolchoznoe proiznošenie, die «Aussprache der Kolchoze,» der sowjetischen kollektiven Landwirtschaftsbetriebe.
Die Trennung zwischen Land und Stadt hat tiefe Wurzeln. Die Mitglieder der Kolchoze, die fast 40% der sowjetischen Bevölkerung ausmachten, hatten nicht einmal Anrecht auf einen Personalausweis. Mit Vollendung des 16. Lebensjahrs wurden sie ins Register des Kollektivbetriebs eingetragen und durften sich ohne ausdrückliche Genehmigung seines Verwaltungsrats nicht entfernen. Dies machte ihnen jede freie Entwicklung von Persönlichkeit und Karriere, darunter die Suche einer Beschäftigung in einer Stadt, so gut wie unmöglich. Sowjetische Kolchoz-Bauer durften eigene Ausweispapiere erst ab dem 28. August 1974 führen. Im Mund der Russen steht der Ausdruck «vom Land kommen» auch heute noch, mehr oder weniger ironisch gemeint, für Rückständigkeit, Ignoranz, Einfältigkeit.
Nicht nur auf dem Land
Diesem Menschentypus begegnet man nicht nur unter Bauern in engstem Sinne. Er ist allgegenwärtig in der russischen Provinz, in farblosen Vorstädten verschanzt, eingemummelt in abgenutzte Mäntel und Pelzmützen. In seiner grauen Anspruchslosigkeit beschuldigt er des kaputten Gesundheitssystems, der gelöcherten Schuldächer, der im Schlamm versinkenden Strassen nicht Putin: Ursächlich für das Elend ist das Ende der Sowjetunion und des Kommunismus, der sorgte ja für alles! – oder ist «der Westen» dran schuld, der hasst Russland halt. Putin ist seinen Augen der Mann, der die verlorene Grösse wiederherzustellen versucht; der richtige Präsident, der während seiner unendlichen Fernsehansprachen die Gouverneure der Regionen peitscht, deren Bewohner des Notwendigen ermangeln.
In der Tat haben viele Bürger dieser Art nur in ihren ersten Lebensjahren oder in den Erinnerungen ihrer Eltern die Sowjetzeit erlebt. Ihre Nostalgie und ihr Misstrauen gegen den Westen bilden sich aus der Propaganda heraus: Die Werbung des Kremls wirkt erstaunlich erfolgreich, bei Menschen, die sich keine andere Informationsquelle als die Staatsmedien vorstellen. Der Zugang zu den wenigen Alternativen und den internationalen Medien setzt eine Technologie voraus, mit der sie nicht umgehen können.
An die Bürger dieser Art wenden sich die Autokraten des Ostens, nicht nur in Russland. Im vergangenen August, als die Protestbewegung in Weissrussland zu erstarken begann, bestellte Aleksandr Lukašenko Hunderte von Bussen und trommelte die Bewohner der ländlichen Gebiete in die Stadt zusammen, damit sie sein dreissigjähriges Regime bejubeln. Seine Parteigänger sitzen in der Provinz, nicht in der Stadt. Das gleiche gilt für die ultrakonservativen Parteien in Polen und Ungarn: Ausserhalb der Städte können sie mit einer unerschöpflichen Reserve an Wählerstimmen rechnen.
Die elementare Logik der Aussagen Putins passt auf diesen Menschentypus ideal. Dieser ist das Porträt des Bürgers aus der Vierten politischen Theorie des Aleksandr Dugin. Reicht die Politik nicht hin, so fallen diese Menschen in den Schoss der langbärtigen orthodoxen Priester. Am Ergebnis ändert sich nichts.
Die andere Zielgruppe der osteuropäischen Autokraten bilden die Beamten. Sie lehnen jegliche Veränderung ab, im Bewusstsein, dass der Sturz des Regimes Ihnen das Ende bedeuten würde. Sie erkennen schon die Naivität der Argumente Putins, aber sie nehmen sie in Kauf, denn der Präsident schützt mit seinem Gefasel nicht nur sich selbst, sondern auch das Machtgefüge des kleinen Staatsdieners. Von den Oligarchen ganz zu schweigen, den Stinkreichen des Postkommunismus, in einer grauen Wolke zwischen Schattenwirtschaft und Politik schwebend.
Dazu kommt die Masse der Gleichgültigen – Weder schlecht noch gut gebildet, weder abgeschieden noch weltoffen, nicht ländlich und doch auch nicht völlig städtisch. Sie mögen keine Parteigänger Putins sein und doch bestreiten sie ihn nicht. Spricht man sie auf Politik an, so hört man von ihnen sinngemäss immer die gleiche Stellungnahme: Wenn nicht Putin, wer sonst? Übrigens kann man eine Überdosis an Zivilcourage nicht jedem zumuten.
Wer könnte etwas ändern und wie
Die einzigen, die Russland – und andere Ostländer – vom Schweben im Surrealismus heruntertun könnten, sind die gut ausgebildeten, jungen und jungerwachsenen Bewohner der grösseren Städte. Sie können die Fremdsprachen, holen sich die Nachrichten im Internet und bereisen die Welt. Sie sind es – ein Teil von ihnen, nicht alle – die demonstrieren, aber sie sind die Wenigsten, obwohl ihre Zahl in den Strassen Moskaus, Sankt-Petersburgs oder Chabarovsks sich grossartig anhört.
Die Vergiftung Naval’nyjs hat etwas verändert, sie war erkennbar ein Wendepunkt. Demonstrativ hatte Putin bisher nie die Videos der Antikorruption-Stiftung Naval’nyjs wahrgenommen; diesmal hat er dazu, zwar nach seiner eigenen Logik, aber doch stellunggenommen. Dass die Staatsmedien über die Proteste, die sie früher fast oder überhaupt übersahen, nun so eingehend berichten, ist auch neu. Naval’nyj seinerseits setzte ein starkes Signal, indem er nach Russland zurückkehrte und sich der voraussehbaren Festnahme direkt am Flughafen auslieferte.
Nichtsdestotrotz, zählt man die Teilnehmer aller Kundgebungen der letzten Monate zusammen, nimmt man die Sympathisanten, die sich auf die Strassen nicht hinauswagen, mit den Mitläufern aller Art dazu, so erreicht man immer noch geringfügige Zahlen, im Verhältnis zur Masse der untätigen Russen, die mit dem Status quo noch nicht unzufrieden genug ist. Das Regime ist zwar unruhiger geworden, aber seine Leute scheinen noch nicht ernsthaft um ihre Macht zu fürchten. Die Machtpyramide der Partei Putins, vom Befehlshaber an der Spitze bis zum kleinen Bürger am Fuss, sitzt noch fest da, denn diejenigen, die immer noch ein Stückchen Glück davon abbekommen, behalten die Mehrheit.
Will eine «russische Opposition,» wenn es sie überhaupt geben wird, etwas erreichen, so muss sie die Wähler der Vorstädte und Provinzen ansprechen, in denen Putin seine Stimmen erntet; sie muss die Masse der Gleichgültigen wachrütteln und die Beamten für sich gewinnen. Sie muss eine Hundertmillionenbevölkerung davon überzeugen, dass ein Rechtsstaat ihr mehr bringt als die dritte Auflage des Zarismus, in der heute ihre Grundrechte verwesen. Zu diesem Zweck braucht eine Opposition einen russlandweiten, zukunftsfähigen Entwicklungsplan, dessen Umsetzung von einer modernen Mittelklasse in einer freien Wirtschaft und einer offenen Gesellschaft getragen wird. Diese Rahmenbedingungen müssen in Russland erst geschaffen werden, denn es gibt sie faktisch nicht. Das dauert noch.
Wir und Naval’nyj
Was besagt die Saga Naval’nyjs uns im Westen? Seine politische Agenda ist nicht klar. Seine Vergangenheit lässt Fragen offen. Niemand wagt, Erwägungen darüber anzustellen, ob Russland unter seiner Präsidentschaft ein besseres wäre. Wir wissen es nicht, die Russen wissen es nicht. Die westlichen Medien erheben den Kremlkritiker zum Helden von Freiheit und Rechtsstaat. Da ist Vorbehalt angemessen. Wir sollten von unserer Begeisterung über die Proteste Abstand nehmen und uns fragen, ob massenhafte Veranstaltungen der richtige Schritt hin zu einer Veränderung sind; ob es eine russische Zivilgesellschaft in welcher Form, wo und überhaupt besteht. Der Geltungsbereich westlicher Denkmuster erstreckt sich nicht grenzenlos nach Osten.
Der Fall Naval’nyj hat eine objektive Tragweite, über seinen subjektiven Belang hinaus. Er stellt uns vor die Tatsache, dass wir im Russland Putins einen Nachbarstaat haben, in dem Abweichler mit Chemiewaffen behandelt und nach der Prozessordnung Absurdistans entledigt werden; ein Land in dem eine Jahrhundertgeschichte von Absolutismus, Totalitarismus und Autoritarismus noch lange nicht enden wird, auch nicht beim nächsten Wahlgang. Es liegt an uns, zu entscheiden, inwieweit und überhaupt wir uns bei diesem unbequemen Nachbarn anbiedern.
Wer mit Putins Russland spielt, der spielt mit unseren Grundrechten – nicht nur mit denen der Russen. Dieser Gedanke scheint bei vielen westlichen Entscheidungsträgern immer noch nicht angekommen zu sein. Die Pandemie hat neue Prioritäten gesetzt, auch im Kreml. Die scheinbare Ruhe täuscht. Die Welt des neuartigen Coronavirus sieht wie ein zugeschneites Feld aus. Lautlos, kleine Geräusche aus dieser und jener Ecke, es passiert scheinbar nichts.
Unter dem Schleier dieses pandemischen Winters lauert doch eine neue Weltordnung. Die Autokraten werden in Wort und Tat dreister und dreister. Die Äusserung Putins über Naval’nyj: «Hätten wir ihn vergiften wollen, dann hätten wir das auch zu Ende gebracht» ist nur ein besonders treffendes Beispiel dafür.