Am 4. Dezember entscheiden die italienischen Bürger in einem Referendum, ob die von der amtierenden Regierung vorgeschlagenen Verfassungsänderungen in Kraft treten oder nicht. Dass die Reform die byzantinischen Entscheidungsprozesse der Republik der Goethe’schen blühenden Zitronen schneller und kosteneffizienter machen wird, ist keine Selbstverständlichkeit.
Es werden im Wesentlichen folgende Änderungen vorgeschlagen:
- Eine der beiden Parlamentskammern, der Senat, wird fast 1:1 nach dem Muster des deutschen Bundesrats neu organisiert; die Anzahl der Senatoren wird von 315 auf 100 reduziert; das Gesetzgebungsverfahren wird hauptsächlich von der Abgeordnetenkammer übernommen, der Senat setzt sich aus Vertretern der Regionalregierungen zusammen und entscheidet über regionale und europäische Angelegenheiten;
- Die Bezirke (Provinzen) werden abgeschafft. Ihre Funktionen werden teilweise vom Senat, teilweise von den Regionen und Gemeinden übernommen. Im Übrigen werden sich die Kommunen zu Gebietskörperschaften, den deutschen Landkreisen ähnlich, zusammenschliessen können; Grossstädte erhalten einen eigenen Status;
- Das Verhältnis zwischen der Zentralregierung und den Regionalräten ändert sich im Sinne einer strengeren Aufsicht seitens des Zentralstaats über die regionalen Verwaltungen; der Nationalrat für Wirtschaft und Arbeit wird abgeschafft, seine Funktionen üben bereits andere Gremien und Organe aus.
Weitere Änderungen dienen der Umsetzung dieser Hauptpunkte und bedürfen daher nicht der detaillierten Ausführung.
Dass die Reform die byzantinischen Entscheidungsprozesse der Republik der Goethe’schen blühenden Zitronen schneller und kosteneffizienter machen wird, ist keine Selbstverständlichkeit. Wer verhindern will, dass ein Gesetz erlassen wird, weil es die Interessen seiner Gilde schädigt, wird sein Ziel irgendwie auch nach der Reform des Gesetzgebungsverfahrens erreichen. In Rom ist man erfinderisch genug. Ob sich die neuen Gemeindeverbände günstiger als die abgeschafften Provinzen erweisen werden, wird sich nach der Art und Weise entscheiden, wie die Menschen sie administrieren. Die Misswirtschaft der Regionen haben Regionalabgeordnete verursacht, die von den Bürgern per Name und Vorname gewählt wurden. Für die Wahl der Regionalräte gilt in Italien immer noch die nominale Stimmgebung. Solange die Bürger nicht bessere Menschen wählen, bleiben Korruption und organisiertes Verbrechen bestehen. Ob die Verfassungsänderungen etwas bewirken werden, hängt weniger von ihrem Inhalt als vielmehr vom menschlichen Verhalten ab.
Einer der lautesten Vorwürfe gegen die Befürworter der Reform betrifft die Befürchtung der Entstehung eines autoritären Regimes. Nach Inkrafttreten der Verfassungsreform soll die Regierung tatsächlich handlungsfähiger sein und sich ähnlich wie in anderen europäischen Ländern bewegen können, was bisher nicht der Fall ist. Das ist per se eine gute Absicht. Die Verstärkung der Exekutive bringt immerhin nicht viel, soweit die Qualität der Regierungsverfügungen kläglich bleibt. Dass die neuen Regelungen zu einer Diktatur führen könnten, erscheint als Gegenargument eigentlich übertrieben. Diktatoren ignorieren den Rechtsstaat und erobern die Macht ungeachtet der Verfassungsartikel. Die Kontrollorgane der Republik, darunter das Verfassungsgericht und der Staatspräsident, bewahren auch nach der Reform ihre Aufsichtsfunktion. Italien bleibt eine westliche Demokratie. Der erste Teil der Verfassung, in dem die Grundsätze verankert sind, wird nicht angetastet. Soweit zu den inländischen Verhältnissen.
Dem italienischen Referendum kommt eine erhebliche geopolitische Bedeutung zu. Das ist für ein Land, das seit Jahrzehnten am Rande des Weltgeschehens kriecht, ein Novum. Drei Punkte scheinen mir in internationaler Hinsicht wichtig.
Globale Perspektive. Jedes Land – wirklich jedes Land – braucht heute Reformen. Kein Staat ist den Herausforderungen der globalisierten Wirtschaft und Gesellschaft wirklich gewachsen. Italien braucht Reformen mehr als andere. Das Argument, mit dem bisher die meisten Italiener die jämmerliche Lage ihres Landes rechtfertigten, lautete ungefähr so: Das Land muss zwar reformiert werden, aber die «Politiker» wollen das nicht. Nun bietet sich die Gelegenheit den Bürgern selbst, zu zeigen, ob sie bereit sind, sich aufs Spiel zu setzen. Wenn die Wähler diese Reform ablehnen, bedeutet dies für die Aussenwelt, dass das Volk überwiegende Interessen am Erhalt des Status quo hat und mit dem Unfug seines Landes im Grunde genommen nicht wirklich unzufrieden ist. Das ist die Botschaft, die aus einer Ablehnung der Reform hervorgehen wird, unabhängig vom Inhalt der Reform selbst. Wann und von wem werden neue Reformpläne vorangetrieben? Was wird mit anderen Reformen sein, zum Beispiel mit der Reform der Justiz und der Steuerverwaltung? Italien ist ein verhältnismässig kleines Land mit einem schläfrigen Inlandsmarkt. Es ist auf ausländische Investoren und Absatzmärkte angewiesen. Man kann es glauben oder nicht, aber die internationalen Investoren erwarten konkrete Antworten auf diese Fragen. Das ist keine Propaganda.
Innereuropäische Beziehungen. Der junge und egozentrische Premierminister Italiens hat einen ähnlichen Fehler wie sein englischer Amtskollege David Cameron begangen. Er hat auf ein Referendum gesetzt, dessen Tragweite nur die wenigsten Wähler richtig einschätzen können. Wird sein Reformvorschlag abgelehnt, so erwartet Renzi der gleiche unrühmliche Rückzug, wie seinen Altersgenossen in London. Eine andere, grobe Fehlleistung der Vierzigjährigen. Europa wird am 4. Dezember noch einen Fall von stochastischer Demokratie erleben. Das Wahlergebnis werden der Zufall und völlig sachfremde Faktoren entscheiden, in einem Umfeld von grober Manipulation der Konsensbildung. Wer könnte nach Renzi in Rom an die Macht kommen? Dass sich dort Kräfte durchsetzen können, die mit dem irreführenden Schrei Make Italy great again die Einbindung Italiens in der EU und der Eurozone in Frage stellen, ist doch möglich. Eine solche Botschaft würde heute bei nicht vernachlässigbaren Teilen der Bevölkerung freundlichen Empfang finden. Die Folgen sind nicht vorhersehbar.
Die Rolle Russlands. Die Bedeutung des italienischen Referendums für Vladimir V. Putin kann man nur dann richtig einschätzen, wenn man in die Weltanschauung des russischen Präsidenten eingeweiht ist. Noch nie hat man in Moskau so viele italienische Parlamentarier und Parteiführer wie in den letzten Monaten gesichtet, alle aus den Reihen der Nein-Kampagne. Ob diese, wie auch andere westliche antieuropäische Parteivertreter, dort finanziell unterstützt werden, kann man nicht beweisen. Dass sie Gehör bei Intellektuellen und hochrangigen Regierungs- und Parlamentsmitgliedern geniessen, dass ihnen namhafte russische Medien und Presseagenturen wichtige Auftrittsbühnen anbieten, ist Tatsache. All diese europäischen Gruppierungen, egal ob links, rechts, extremlinks oder -rechts, populistisch und was auch immer, haben eines gemeinsam: Sie zielen auf die Abschwächung oder Abschaffung der europäischen Union und des Euro, mit paralleler Annäherung ihrer Länder an Russland und die Euroasiatische Union. Alle Parteien der Nein-Kampagne unterstützen in Italien mit unterschiedlichen Nuancierungen solche These. Dieser Sachverhalt spiegelt sich tagtäglich in den russischen Medien getreu wider: Anführer von italienischen Parteien mit bisher geringen Prozentualen und ungebildete Neulinge der Politik werden in der Moskauer Berichtserstattung schlicht und einfach zu Regierungskandidaten oder Hoffnungsträgern für das Italien der neuen Weltordnung erhoben. Wenn Renzi wegfällt, setzt Putin auf diese Kräfte. Die Risiken dieser Aktion können die unvorsichtigen Arrivierten der italienischen Politik wegen mangelnder Bildung kaum erkennen.
In Europa werden die Wahlen immer mehr zu Weichenstellungen zwischen dem Erhalt der Selbstbestimmung unserer Länder innerhalb der EU und dem Verzicht auf die EU, zugunsten der Aufnahme, als schwache und alleinfliegende Trabanten, in die Umlaufbahn Russlands. Die Wähler entscheiden nicht zwischen einem Präsidentschaftskandidaten und einem anderen, zwischen der Partei A und der Partei B, für oder gegen eine Verfassungsreform. Sie wählen faktisch das geopolitische Lager aus, dem ihr Land langfristig angehören wird. Setzt man das italienische Referendum in die gesamteuropäische Perspektive, so erkennt man, dass es eigentlich der chronologisch erste grosse Wahlgang in Westeuropa mit diesem deutlichen geopolitischen Hintergrund ist. Die gleiche Konstellation hat man in den letzten Wochen bei den Wahlen in Moldawien und Bulgarien beobachtet. Hinter der abgeblassten Maske der traditionellen Parteisymbole standen dort offen deklarierte pro-russische und pro-europäische Kandidaten zur Wahl, wobei die pro-russischen, mit festen Verbindungsdrähten zu Moskau, die Oberhand gewannen. Das italienische Referendum setzt diese Reihe fort: Hinter dem Nein liegen die pro-russischen, dem Ja die pro-europäischen Kräfte. Der nächste, wichtigere Schritt auf diesem Weg ist die französische Präsidentschaftswahl von 2017. Frau Le Pen und ihre Parteikollegen gastieren in Moskau permanent. Dass die französische Rechtspartei Geldanleihen von Moskau erhalten hat, konnte nachgewiesen werden. Die Partei selbst musste die Verbindungen zu russischen Finanzierungsquellen zugeben.
Abschliessend: Für eine Verfassungsreform ist in Italien kein Referendum vorgeschrieben. Man hätte von Regierung und Parlament die dafür erforderliche Courage erwartet, die für notwendig erachteten Verfassungsänderungen zu verabschieden, sie so schnell wie möglich in Kraft zu setzen und eine klare Verantwortung dafür zu übernehmen. Ganz im Gegenteil. Wie schon beim Brexit, hat auch in Italien ein zu schnell aufgestiegener Regierungschef Fragen von erheblicher innenpolitischer Bedeutung und schwer absehbarer geopolitischer Tragweite dem Ermessen von Bürgern überlassen, deren Meinung sich überwiegend nach sachfremden Kriterien bilden wird. Die Manipulationsarbeit durch die sozialen Medien ist im vollem Gange. Der Ausgang des Referendums erregt Sorgen im In- und Ausland.
Regierungschefs können demissionieren und aus dem politischen Schauplatz verschwinden. Kaputtregierte Länder bleiben dort, wo sie sind. Ihre Bürger müssen mit den Folgen von missglückten Strategien über Generationen hinweg leben. Sie können sich darüber nicht einmal beklagen, denn sie haben das eigene Schicksal «demokratisch» mit ihrer Stimme versiegelt.