Was will Putin, einfach erklärt? Der Auftritt Wladimir Putins auf der Waldai-Konferenz vom 27 Oktober 2022 wimmelt von Ohrwürmern der Kriegsrhetorik Russlands. Die dreieinhalbstündige Rede des russischen Präsidenten bietet dennoch den Anlass, die Grundsätze der russischen Strategie auf ihre Wurzeln zurückzuführen und die Vision des russischen Regimes für unsere Zukunft zu erschliessen.
Den Auftritt Putins auf der Waldai-Konferenz haben die meisten Medien nur auszugsweise wiedergegeben und kommentiert. Die vorliegende Analyse beruht auf der vollständigen, unvermittelten Version in Originalsprache und Originalton. Zur Erklärung einiger Begriffe beziehe ich mich auf die Werke Aleksandr Dugins: In früheren Beiträgen habe ich mich auf die Seminare dieses russischen Politologen über seine Vierte politische Theorie berufen. Hier beziehe ich mich auf frühere Kurse Dugins an der Moskauer Staatlichen Universität, in denen er Grundsätze erklärt, die zum Leitfaden der Aussenpolitik Russlands der letzten 20 Jahre geworden sind. An manchen Stellen seiner Waldai-Rede übernimmt Wladimir Putin die Begriffe Aleksandr Dugins nahezu wortwörtlich.
Dieses Element ist wichtig und fällt allerdings nicht hinreichend ins Gewicht, in westlichen Kreisen. Die Tätigkeiten Russlands in der Ukraine sind Teil einer umfangreichen Strategie, solid und überzeugend aufgebaut – soweit man sie vom Gesichtspunkt der Russen aus betrachtet. Die Strategie des Kremls zielt hauptsächlich nicht auf die Ukraine. Sie richtet sich schnurstracks auf uns als «sogenannten Westen», wie Putin uns bestenfalls zu bezeichnen pflegt.
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Eine post-hegemonische Welt: Mehr Sicherheit für alle?
Dass wir diesen geopolitischen Ansatz Russlands mögen oder nicht, ändert an der Sache nichts. Wenn wir den Ukraine-Krieg und die Tätigkeiten des russischen Regimes im Verhältnis zu unseren Ländern einordnen wollen, dann müssen wir uns ins doktrinäre Urgestein der Aussenpolitik des postsowjetischen Russlands hineindenken. Wenn wir den Krieg als eigenständige Aktion eines machtgierigen Regimes auffassen, wie es im Westen kläglich oft der Fall ist, entgeht uns das Gesamtbild und unser Widerstand wird sich immer schwach und unangemessen gestalten.
Die Konferenz des Waldai-Klubs richtet sich an Akademiker und politische Fachpersonen. Deswegen hat Putin hier, dieses Jahr wie auch in den vergangenen, eine Rede gehalten, in der die Konstellation der russischen Auslandsbeziehungen besonders detailliert eingeordnet wird. Die Anmerkungen Putins gelten auch uns, als Zielscheibe der aggressiven Aussenpolitik Russlands seit Beginn des XXI. Jahrhunderts.
Im Redeschwall Putins lassen sich ebenfalls einige unangenehme Wahrheiten erkennen. Wir sollten uns vor diesen Wahrheiten nicht scheuen. Bei dieser Analyse konzentriere ich mich auf die grundlegenden Elemente der russischen Weltanschauung. Rhetorische Exzesse, geläufige Annahmen Putins über Politik und Geschichte sowie sachfremde Hinweise auf innenpolitische Angelegenheiten bleiben hier absichtlich ausser Betracht.
Der Leitsatz der heurigen Waldai-Konferez lautete: «Die post-hegemonische Welt – Gerechtigkeit und Sicherheit für alle». Wie sich dieser Vorsatz verwirklicht, aus russischer Sicht, lässt sich an den Worten Putins glänzend erkennen.
DIE WELT PUTINS AN DER SCHWELLE VOM 24. FEBRUAR
Ausgangspunkt der Betrachtung Putins ist die Annahme, die Welt müsse nach Regeln tanzen, die niemand weiss, wer sie geschrieben hat. In den letzten Monaten sei eine Verschlechterung der internationalen Beziehungen eingetreten: Ursache davon sei das Verhalten des Westens. Die USA und Europa seien ursächlich für den Ukraine-Krieg, für die Destabilisierung der Märkte durch die Verhängung wirtschaftlicher Sanktionen gegen Russland und für die Provokationen um die Stellung Taiwans.
Dabei habe der Westen wiederholt Systemfehler begangen, unter anderem den Absturz des europäischen Gasmarktes verursacht. Russland sei Zeuge dieser Ereignisse, aber es sei ständig der Zusammenarbeit offen gewesen und habe Angebote unterbreitet. Mit diesem Satz bezieht sich Putin auf die Ansprüche Russlands, die der Kreml Ende 2021 zur internationalen Debatte stellte. Ganze Staaten Nord- und Mitteleuropas sollten neutralisiert und die Einflussgrenzen zwischen Russland und den USA neu abgesteckt werden. Diesen Vorschlägen des Kremls habe der Westen nur Absagen erteilt, bemängelt Putin.
Der Westen will Russland zum Erfüllungsinstrument seiner Ziele machen, aufgrund von einem „allgemeingültigen Regelwerk“ an dessen Erarbeitung Russland nie beteiligt war. Putin zitiert den Schriftsteller Alexander Issajewitsch Solschenizyn, der den Westen «dauerhaft in seinem Überlegenheitssinn verhaftet» sieht. Der Westen meine, dass alle Länder der Welt sich mit dem westlichen System abfinden und auf dieser Grundlage entwickeln müssen. Genau das, sagt Putin, passiere heute.
«Cancel culture» und Kennedy
Neuerdings treibe der Westen sogar eine Politik der Cancel Culture gegen Russland, meint Putin. Westliche Kulturanstalten verweigern nämlich die Darstellung russischer Kunstwerke. Hier bezieht sich Putin auf die Welle der Absagen von Auftritten russischer Darsteller, Komponisten und Dramaturgen durch Theater und Konzertvereine in vielen westlichen Ländern, als Folge der Wiederaufnahme des Ukraine-Kriegs im Februar 2022 (die eigentliche Ursache nennt Putin allerdings nicht).
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Mit Anmutung an die berühmte Antrittsrede von John F. Kennedy vom November 1960 stellt Putin fest, dass die Welt vor dem Aufbruch zu neuen historischen Grenzen steht und sich gerade mitten im gefährlichsten, unberechenbarsten und doch wichtigsten Jahrzehnt der Nachkriegszeit befindet.
WAS WILL PUTIN, EINFACH ERKLÄRT: DIE HAUPTTHEMEN
In der Waldai-Rede fallen Begriffe, die weder bei Putin noch beim öffentlichen Diskurs ganz neu vorkommen. In diesem Zusammenhang bilden sie dennoch eine besonders aufschlussreiche Konstellation. Darunter: Universalismus, Kolonialismus, unipolare und multipolare Welt, Gleichgewicht der Interessen und so weiter.
Kritik an «unipolare Welt» und Universalismus
Nach dem Fall der Sowjetunion habe der Westen die «unipolare Welt» ausgerufen. Unipolar, weil in dieser Welt nur westliche Kultur, Willen und Regeln gelten – Mit «Regeln» meint Putin die Grundsätze der offenen Gesellschaft, die Demokratie, die Menschenrechte und das Völkerrecht, Letzteres als Produkt westlichen Überlegenheitsdünkels abgetan.
Ja mehr noch – Westliche Kultur und Weltanschauung erheben Anspruch auf Universalismus, also auf Allgemeingültigkeit für die ganze Menschheit. Dabei hat der Westen nie dieses Regelwerk mit dem Rest der Welt abgesprochen.
Die Völker der Welt streben nach Freiheit. Darüber sollte sich das liberale Abendland freuen. Und dennoch, setzt Putin aus: Der Westen ist von seiner Unfehlbarkeit überzeugt. Wenn dieser Wunsch nach Freiheit nicht dem westlichen Modell entspricht, dann verhängen die USA und Europa Sanktionen. Sie mischen sich politisch ein, organisieren Farbenrevolutionen und kippen Regierungen um.
Putin bezieht sich hier ohne Umschweife auf die ukrainischen Protestbewegungen der Jahre 2004 und 2014 (die sogenannten Majdan-Aufmärsche), als Farbenrevolutionen bekannt. Der Kreml deutet jene Ereignisse als westliche Verschwörungen gegen die vermeintlich berechtigte Ansprüche Russlands auf sein Nachbarland.
Westlicher Kolonialismus und Globalisierung
Dieses Einheitsmuster des Westens bilde ein Herrschaftsmodell, aus dem eine koloniale Globalisierung als Machtsicherungsinstrument hervorgehe. Der Westen stärkt seine koloniale Macht, indem er immer neue Abhängigkeiten schafft. Als Beispiel dafür zitiert Putin die Dominanz des Westens in Wirtschaft, Pharmaindustrie und Maschinenbau. Wann immer der Westen neue Märkte in diesen Bereichen erschliesst, unterdrücke er die örtlichen Akteure nach einem kolonialen Konzept.
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Putin bezieht sich nochmals ausdrücklich auf die Ukraine und auf ihre Annäherung an die Europäische Union. Der Fortschritt des Assoziierungsprozesses setzt bei der Ukraine eine Anpassung der technischen Normen an das europäische Regelwerk voraus. Der normative Übergang wurde tatsächlich zu einem Knackpunkt, in den Schicksalsjahren 2013/14.
Das Argument lautete: Wenn die Ukraine sich von Russland nach Europa wegentwickelt, dann übernimmt sie das westliche technische Instrumentarium und hängt das russische ab. Diese Aussicht beunruhigte die Russen und manche Unternehmer der Südostukraine, die ihre Absatzmärkte in Russland nicht verlieren wollten.
STECKT DER WESTEN IN EINER KRISE?
Nun, sagt Putin, stecke das neoliberale Entwicklungsmodell des Westens in einer doktrinären Krise. Der russische Präsident beruft sich noch einmal auf die Literatur. Er zitiert diesmal Die Dämonen Fjodor Michailowitsch Dostojewskis: «Ausgehend von schrankenloser Freiheit, ende ich mit unumschränktem Despotismus». Eben dies, fügt Putin hinzu, haben «unsere Opponenten» – wir also – erreicht.
Die Krise sei nicht von gestern da, sagt Putin. Schon im 20. Jahrhundert sprachen die Liberalen davon, dass die «sogenannte» offene Gesellschaft Feinde hat. Putin nennt es nicht, aber bezieht sich auf das Schlüsselwerk Karl Poppers «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde». Damit das westliche Entwicklungsmodell nicht zerschellt, muss die Freiheit derer, die andere Entwicklungsmodelle vorschlagen, als Propaganda und Drohung gegen die Demokratie verpönt werden.
Der «sogenannte Westen» – meint Putin – sei übrigens nicht einheitlich, sondern ein komplexes Konglomerat. Es gebe wenigsten zwei unterschiedliche Westen, meint Putin. Einen «traditionellen Westen» einerseits, der christliche (mittlerweile auch islamische) Werte, Freiheit und Reichtum der Kultur vertritt. Dieser Westen hat alte Wurzeln und ist Russland näher. Der «andere, aggressive und neokoloniale Westen» ist die Waffe der neoliberalen Elite. Dem Diktat dieses Teils des Westens wird sich Russland nie ergeben.
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Der Westen sei nicht imstande, die Menschheit von allein anzuführen, aber versucht es trotzdem, in seiner Hilfslosigkeit. Die Mehrheit der Weltbevölkerung will vom westlichen Entwicklungsmodell nichts wissen, stellt Putin fest. Daraus entstehe, meint er, die typische Ausgangslage für eine Revolution. Der westliche Anspruch auf Allgemeingültigkeit westlicher Werte kann Ketten von Konflikten auslösen. Diese Konflikte werden der ganzen Menschheit – und dem Westen selbst – zum Verhängnis. Die historische Aufgabe unserer Zeit sieht Putin darin, diese Gegensätze auszugleichen.
Was will Putin, wenn er den Westen einfach als Minderheit erklärt
Die Mehrheit der Bevölkerung bewohne den Osten Eurasiens, wo sich, nach dem Weltbild Putins, die ältesten Zivilisationen befinden. Putin stellt die Ansicht Russlands klar: Grundlage der Weltzivilisation sind die traditionellen Gesellschaften des Orients, von Lateinamerika, Afrika und Eurasien.
Der Westen, sagt Putin, verliert seine Überlegenheit und wird schnell zu einer Minderheit der Weltarena. Im Glauben, wir im Westen seien besser als alle anderen, merken wir Europäer nicht, dass wir zu einer entlegenen Peripherie, ja zu Vasallen der USA geworden sind, ohne Recht auf Gehör. Die Rechte der europäischen Länder seien heute durch die USA «stark eingeschränkt, um es mild auszudrücken» – unterstreicht Putin.
Da der Westen eine Minderheit ist – konzediert Putin – darf er seine Rechte haben. Russland mischt sich in westlich-interne Fragen nicht ein. Putin gib in diesen Worten unsere Rolle in der neuen Weltordnung deutlich zu erkennen. Wir sind eine tolerierte Minderheit; über uns waltet die Mehrheit im Nicht-Westen.
Was will Putin, einfach erklärt: Die Reise des Helds
Der aggressive Teil des Westens versucht nun, Russland zu spalten. Putin erwähnt hier den Tschetschenien-Krieg und die ersten Jahre seines Mandats als Präsident. Er erinnert an jene Jahre nicht zufällig. In der russischen Weltanschauung übernimmt heute die Ukraine die gleiche Rolle, die Tschetschenien am Anfang unseres Jahrhunderts spielte. Die Entschlossenheit Putins sei heute wie damals gefragt, denn Russland befinde sich wieder am Rande des Zerfalls.
Tschetschenien ist eine Teilrepublik der russischen Föderation, die Ukraine ist ein unabhängiger Staat. Putin sieht den Unterschied nicht, denn beide Länder sind Teile des «historischen Grossrusslands», an welches er sich seit der Wiederaufnahme des Ukraine-Kriegs nunmehr ausdrücklich wendet.
Die Erfahrung des Tschetschenien-Kriegs in seinen ersten Regierungsjahren hat ihn geprägt, gibt Putin zu. Aus dieser Aussage geht deutlich hervor, dass der Krieg in der Ukraine, im Weltbild Putins, bei den Kaukasus-Kriegen anknüpft. Schon damals habe sich die Wirtschaft Russlands viel stärker als erwartet erwiesen. Damit deutet Putin darauf hin, dass Russland die heutigen Sanktionen nicht zu befürchten habe.
Putin sei allerdings das Bewusstsein davon wichtiger, dass Russland ein grossartiges Land ist und dass «die Russen und die anderen ethnischen Gruppen des Landes geistig bereit sind, für die eigene Durchsetzung zu kämpfen». Diese Gewissheit leite den Präsidenten im heutigen Zusammenhang. In diesem Sinne muss Russland sein ganzes historisches Erbe verwerten, es darf und muss auf nichts verzichten.
Putin sieht in sich den Archetyp des Helden. Er muss den Drachen – den Westen – töten, das gefangene Mädchen – Russland – retten, den Schatz – die Überlieferung Russlands – erobern und damit das Reich – das Russland der Zukunft – erbauen, über das er als Held und König gebietet.
WAS WILL PUTIN: DIE MULTIPOLARE WELT EINFACH ERKLÄRT
Nun sei die Zeit der ungeteilten Dominanz des Westens um, richtet Putin. Die unipolare Welt verabschiede sich in die Vergangenheit. Die Menschheit stehe an einem Scheideweg. Entweder vergrössert sie die bestehenden Probleme oder versucht sie, die Probleme einvernehmlich mit konkreter Arbeit zu lösen, damit die Welt stabiler und sicherer wird.
Die neue, «multipolare» Weltordnung entstehe gerade vor unseren Augen. In dieser Weltordnung neuartiger Gestalt bekräftigt Russland sein Recht zu existieren – was übrigens niemand in Frage stellt – und sich eigenen Weges zu entwickeln. Alles, was nun passiert – der Krieg in der Ukraine und die Neuausrichtung des russischen Blicks nach Aussen – trage Russland einen grossen Gewinn ein. Das Land, so Putin, sei dabei, seine Souveränität zu stärken und es entkomme somit dem Schicksal, zu einer politischen, wirtschaftlichen und technologischen Halbkolonie des Westens zu verkümmern.
Die Besonderheit Russlands in diesem Zusammenhang bestehe darin, sagt Putin, dass seine Stellung in Bezug auf die Androhungen von aussen – also zu dem Westen – totalen Konsens der übrigen Welt geniesse. Diese Unterstützung werde nur breiter. Die Kritik komme nur von westlichen Menschen, die in der westlichen Weltanschauung aufgewachsen sind und das russische Weltbild nicht verstehen.
Hier übernimmt Putin ein Argument der Geopolitik Dugins und von anderen Autoren, nach dem die Auffassung der Geopolitik sich am Kontext orientiert, in dem sie gelernt wird. Auch Putin meint, es bestehe keine einheitliche Auffassung der internationalen Beziehungen. Jede Darstellung der Weltverhältnisse sei nur relativ im Weltbild verankert, in dem der Beobachter aufwächst.
Die neue Weltordnung einfach erklärt: was will Putin
Auf die Frage, welche Regeln sollen in der neuen, multipolaren Weltordnung herrschen, antwortet Putin in einer anfänglich erstaunlichen Weise: Wir glauben, sagt der Präsident, dass die neue Welt auf Gesetz und Regeln, Freiheit und freier Wirtschaft gegründet sein soll, unter der Schirmherrschaft der UNO.
Dass man sich über eine solche Äusserung nicht zu früh freuen soll, zeigen die ihr nachfolgenden: Die Welt ändert sich, fügt Putin hinzu, die Regeln müssen dementsprechend angepasst werden. Das geltende Regelwerk habe der Westen erarbeitet, es diene nur der Schwächung seiner Mitbewerber.
Die Menschenrechte, meint Putin, können nämlich zur Schwächung der Staaten führen. Der Fall China zeigt es, formuliert Putin in einem schwerwiegenden wie seelenvergnügt ausgesprochenen Satz, der wie ein Stein durch den Verstand geht: Die Achtung der Menschenrechte in bestimmten Regionen Chinas wäre unmöglich, denn der Staat würde zerfallen. Putin bezieht sich auf die Uiguren und auf die anderen Minderheiten, die Peking systematisch unterdrückt.
Dieses Beispiel veranschaulicht wie kein zweites die russische Auffassung des Sozialvertrags: Wenn die Durchsetzung der individuellen Rechte den Staat in Gefahr stellt, dann überwiegt der Staat. Das ist der Zapfen, um den die Weltanschauung – ja die Auffassung der Menschenwürde zwischen Russland und dem Westen schwenkt.
Was will Putin: Die «Weltsymphonie» einfach erklärt
Zu Ende seines Auftritts setzt Putin einen effektvollen Satz: «Wir müssen Verantwortung vor der Welt übernehmen und eine Symphonie der menschlichen Zivilisationen aufbauen». Die neue Welt wird eine «Welt ohne Sanktionen sein» – also, zu Deutsch, eine Welt, in der jeder Staat tut und lässt, was er will. Die einzige Grenze zur totalen Handlungsfreiheit ist das Gleichgewicht der Interessen. Was Putin darunter versteht, erkläre ich weiter unten.
Von einer anscheinend konstruktivistischen, Regelbasierten Welt fällt Putin – mit einer spektakulären Kehrtwende, die man allerdings nur merkt, wenn man den Hintergrund seiner Worte kennt – in eine drastisch realistische Weltordnung. Autoritäre Regime, Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung der Minderheiten und dergleichen gehören einfach dazu, soweit sie dem Gleichgewicht der Interessen dienen.
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Zustimmung und Faszination beim Publikum
Nach insgesamt dreieinhalb Stunden Rede und Fragerunde geht der Auftritt Putins zu Ende. Man könnte noch vieles über die Zuhörer erzählen, aber ich beschränke mich auf einige Spitzen. Im Publikum sassen neben den Russen vorherrschend Vertreter Asiens, Afrikas und Lateinamerika. Staaten wie Kanada oder Moldawien schienen nur von prorussischen Aktivisten vertreten zu sein.
Putin übte auf diese Zuhörerschaft eine fesselnde Faszination aus. Man erkannte es an der Körpersprache der Teilnehmer, an den Gelächtern auf die Sprüche und Witze faden Geschmacks hin, mit denen sich Putin über die Ukraine und den Westen lustig machte; am vergnügten Grinsen und am unablässigen, zustimmenden Nicken vieler Gesichter in der überfüllten Konferenzhalle. Die allerwitzigste Nummer lieferte dabei eine asiatische Teilnehmerin. Im Anschluss an ihre Frage, bat sie Putin um ein signiertes Fotoporträt, denn sie verehrt ihn halt.
Der Waldai-Klub gibt sich als russisches Gegenstück zur Münchener Sicherheitskonferenz aus, aber: Bei den Fragerunden der Münchener Veranstaltung treiben höchst kompetente Zuhörer die Redner oft in grosse Schwierigkeiten. Die Auftritte der Teilnehmer beim Waldai-Klub dienten anscheinend nur der Bestätigung, Bekräftigung und Beweihräucherung der Aussagen Putins – Dermassen unverschämt, dass die ganze Fragerei zuweilen als vorgekochte Beilage zum Vortrag des Präsidenten vorkam.
WAS MEINT PUTIN, WENN ER SICH GEGEN DIE «REGELN» ERKLÄRT
Bei der Waldai-Rede Putins kommen Thesen zu Sprache, die einfacher zu entkräften sind. Andere bedürfen einer längeren Bearbeitung, denn sie kommen beim ersten Anblick sogar als lobenswerte Prinzipien der Menschlichkeit vor. Obendrein kommen einige Wahrheiten ans Licht, mit denen wir uns auseinandersetzen sollten.
Das «westliche Regelwerk» – Das will Putin einfach als Passé erklärt
Putin meint, die Welt tanze nach Regeln, die nur vom Westen geschrieben wurden. Das stimmt nicht. Russland beteiligt sich seit jeher an der Entwicklung des Völkerrechts. Es hat internationale Verträge mitgestaltet und unterschrieben. Als die Sowjetunion fiel, übernahm Russland aus freiem Willen alle Rechte und Pflichten aus den geltenden Staatsverträgen, indem Moskau in die rechtliche Nachfolge der aufgelösten UdSSR ausdrücklich einwilligte.
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Das postsowjetische Russland hat seinerseits unzählige völkerrechtliche Verträge mitgezeichnet – Darunter zahlreiche Abkommen, in denen Moskau die Grenzen und die Souveränität der Ukraine anerkennt. Der Vorwurf, Russland müsse sich an ein völkerrechtliches Regelwerk anpassen, das nur im Westen erarbeitet wurde und nun Russland aufgezwungen wird, ist belanglos und bedarf hier der weiterführenden Bearbeitung nicht.
In der Auffassung Putins habe der Westen in den letzten Monaten gravierende Systemfehler begangen. Darunter die Verhängung von Sanktionen gegen Russland, die Umgestaltung des Energiemarktes und die weiteren, schwerwiegenden Entscheidungen, die von der internationalen Gemeinschaft der Wiederaufnahme des Ukraine-Kriegs zufolge getroffen werden mussten.
Ukraine- und Tschetschenien-Krieg, der rote Faden
Putin betrachtet diese Aktionen als Fehlgriffe, denn er lässt ihre Ursache ausser Betracht. Er sieht den Ukraine-Krieg als Militäroperation mit innenpolitischem Belang. In der Ukraine bekämpfe Russland Fremdlinge, «Faschisten» (oder neuerdings «Satanisten»), die 1991 ein Teil russischen Hoheitsgebiets unberechtigterweise zu einem unabhängigen Staat namens Ukraine erklärten und seither unbefugt darüber walten.
Daher habe der Rest der Welt bei der Ukraine-Frage nichts zu suchen. Wie der Tschetschenien-Krieg, auch der Ukraine-Krieg sei und bleibe, in der Weltanschauung Putins, eine Frage der Aufrechterhaltung russischer territorialer Souveränität. Die UNO und andere Staaten haben sich in diese innere Angelegenheit Russlands nicht einzumischen. Die Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staats ist ja ein Gebot des Völkerrechts. Es gibt doch internationale Rechtsgrundsätze also, die Putin nach eigenem Gutdünken akzeptiert und nicht als «vom Westen auferlegt» abtut – ein Völkerrecht «à la carte».
Schafft man den Ukraine-Krieg als Ursache der Sanktionen und der damit verbundenen Beschlüsse ab, so versteht man sie tatsächlich nicht mehr. Russland kommt wie ein verurteilter Mörder vor, der weiterhin beteuert, er habe niemanden getötet. Daher betrachtet er die verhängte Haftstrafe als Fehlentscheidung der Richter.
Die «unipolare Welt» westlicher Prägung gibt sich als liberal aus, aber akzeptiert keine Alternative zur Demokratie, tadelt Putin. Er fügt hinzu, alle Menschen, die westliche Prinzipien verweigern, seien nach westlicher Sicht Geschöpfe zweiter Klasse. Nun, meint Putin, die unipolare Welt gelte es durch eine multipolare Welt zu ersetzen.
WIE ERKLÄRT PUTIN DIE MULTIPOLARE WELT, DIE ER WILL
Jede Zivilisation habe eine andere Auffassung vom Menschen und von seiner Natur. Die westlichen Werte streben nach Allgemeingültigkeit. Die traditionellen Werte der anderen Zivilisationen seien dagegen keine fixierten und reproduzierbaren Postulate, die allen passen wollen. Sie entstehen aus der Tradition und Kultur jeder Gesellschaft und aus ihrem historischen Werdegang. In der multipolaren Welt darf es keine «Einheitswahrheiten» geben. Wir müssen von jedem Gesichtspunkt, von jedem Volk, jeder Gesellschaft, Kultur, Weltanschauung und religiöser Vorstellung Rechnung tragen.
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Diese Äusserungen enthalten eine Folge von Binsenwahrheiten, die der russische Präsident und die Populisten aller Zeiten in ihren Reden unablässig erklingen lassen. Wer solche Worte hört hat den Eindruck, dass ihm ein Licht aufgeht: So muss eine gerechte Welt aussehen! Es stimmt doch, was Putin sagt! – wird man denken.
Recherchiert man nach, was «multipolare Welt» in der Lehre der russischen Geopolitik bedeutet, findet man eine weniger erfreuliche Deutung dieses Begriffs. Hier die brillante Begriffserklärung Aleksandr Dugins, in seinem Vortrag von 2012 an der Moskauer Universität:
«Многополярная теория – это очень революционная, острая теория […] Многополярность исключает однополярность, потому что предполагает, что решения […] определяется не в одном центре, а в нескольких. Соответственно, многополярный мир и однополярный мир – антитезис. […] Надо уничтожить однополярный мир и […] если он сам не хочет закончиться, надо приблизить его конец. Это очень агрессивная, жесткая позиция. […] многополярный мир возможен только после окончательной и бесповоротной ликвидации однополярного мира».
«Die multipolare Theorie ist eine sehr revolutionäre, extreme Theorie […] Multipolarität schliesst Unipolarität aus, denn sie voraussetzt, dass Entscheidungen nicht in einem Zentrum sondern in mehreren Zentren getroffen werden. Demzufolge sind die multipolare Welt und die unipolare Welt zueinander gegensätzlich […]. Man muss die unipolare Welt zerstören und […] wenn sie nicht bereit ist, von allein zu enden, muss man ihr Ende näher bringen. Das ist eine sehr aggressive, harte Position […]. Die multipolare Welt wird erst nach dem abschliessenden und unwiderruflichen Ende der unipolaren Welt entstehen».
Die multipolare Welt: Keine blühenden Landschaften
Die multipolare Welt der Russen ist daher keine blühende Landschaft, in der die Vielfalt der Kulturen geachtet wird. Sie ist in erster Linie eine Kampfansage an Demokratie und Menschenrechte. Dugin hat Recht: Da stehen zwei Welten gegeneinander. Putin bringt es ausdrücklich auf den Punkt, indem er in seiner Waldai-Rede sagt, die Demokratie sei nicht das einzige Gesellschaftsmodell:
«В мире могут возникнуть альтернативные общественные модели – более эффективные, хочу это подчеркнуть, более эффективные в сегодняшнем дне, яркие, привлекательные, чем те, что есть. Но такие модели обязательно будут развиваться – это неизбежно».
«In der Welt können alternative Gesellschaftsmodelle entstehen. Sie können effektiver, ich will es unterstreichen: Sie können heutzutage effektiver, glänzender und attraktiver sein, als diejenigen, die es gibt. Diese Modelle entwickeln sich halt, das ist unvermeidlich».
Putin nennt sie nicht, aber bezieht sich eindeutig auf die autoritären Regierungsformen in einem breiten Spektrum von Ungarn bis China, über Russland und ähnliche Pseudodemokratien. Diese «alternativen Modelle entwickeln sich halt, das ist unvermeidlich», verspricht Putin. Das sei unter anderem dadurch bewiesen, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung vom westlichen Entwicklungsmodell nichts mehr wissen wolle.
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Alle Zivilisationen erkennen in der höchsten Würde und spirituellen Essenz des Menschen die wichtigste Grundlage für den Aufbau unserer Zukunft, stellt Putin feierlich fest. Schaut man an Russland, China und die anderen autokratischen Gesellschaften, die in der multipolaren Welt mitspielen sollen, hat man berechtigten Grund, diese Aussage Putins in Zweifel zu ziehen.
Im Umkehrschluss: In der russischen Weltanschauung gibt es Menschen, denen Menschenrechte, Grundfreiheiten und Demokratie vorenthalten werden dürfen, und zwar mit Fug und Recht, denn sie gehören zu «alternativen Gesellschaftsmodellen», in denen der Mensch keinen Anspruch auf Anerkennung seiner individuellen Aussagekraft erheben darf.
Alternative Gesellschaften – Ohne Grundrechte
Diesen Grundsatz bringt Dugin seinerseits zum Ausdruck, indem er feststellt:
«Любые претензии […] относительно того, что западные ценности есть ценности универсальные, а соответственно, что все народы должны принять национальное государство, парламентскую систему разделения властей, идеологию прав человека, рыночную экономику, независимую прессу – все эти претензии должны быть обращены назад […] Западу это нравится? Замечательно, ну и соблюдайте их. У нас другие права и другой человек и другая социальная антропология у других обществ».
«Alle Ansprüche, die damit verbunden sind, dass die westlichen Werte allgemeingültige Werte sind – und zwar, dass alle Völker den Nationalstaat, das parlamentarische System der Gewaltenteilung, die Ideologie der Menschenrechte, die Marktwirtschaft, die unabhängige Presse akzeptieren müssen – all diese Ansprüche sind zurückzuweisen. […] Will man im Westen die Menschenrechte? Na wunderbar, dort sollen sie auch beachtet werden. Wir haben andere Rechte und einen anderen Menschen, eine andere Sozialanthropologie in anderen Gesellschaften».
«Wir haben einen anderen Menschen» (другой человек) – Einen Menschen also, der bei Menschenrechten, Demokratie und dem ganzen «westlichen» Gerede und Geschreibe über die zentrale Bedeutung der menschlichen Würde nichts zu suchen hat. Putin bringt den gleichen Grundsatz zum Ausdruck, indem er sagt, auf der Waldai-Konferenz:
«Will der Westen die Gender-Ideologie und die Gay-Paraden? Soll er sie nur haben, Russland mischt sich in westlich-interne Fragen nicht ein».
Hier vertritt Putin die gleiche Position Dugins, nur mit anderen Worten: Wir sind anders, wir haben andere Menschen. Der russische Präsident erwähnt die homosexuelle Frage absichtlich. Er weiss, dass dieses Thema, wie das Migrationsrecht, ein hoch umstrittenes Gebiet der Menschenrechte im Westen ist. Mit diesen Themen erntet er Zustimmung uns säht Spaltungsstoff in der westlichen Gesellschaft. Zählte Putin unverhüllt die Rechte auf, die er in seiner Weltanschauung angreift – Gewaltenteilung, Meinungsäusserungsfreiheit und die anderen Grundfreiheiten – würden die westlichen Zuhörer (noch) ablehnend reagieren – wie sie in der Zukunft darauf reagieren werden, bleibt offen.
Was will Putin, einfach erklärt: multipolare vs multilaterale Welt
Wie auch sonst üblich, äussert Putin in milderer und politisch vertretbarer Form die gleichen Grundsätze, die Dugin auf extreme und doktrinäre Weise formuliert. Es ist nur eine Frage der Zeit, und auch die harte Originalfassung wird zu Normalität des öffentlichen Diskurses. Das triftigste Beispiel dafür ist eben der Ukraine-Krieg. 2014 wurde Dugin noch mit dem Ausschluss aus der Universität bestraft, weil er zur Tötung der Ukrainer aufhetzte. Heute ist das Genozid an den Ukrainern Kriegsalltag und niemand wird deswegen bestraft – Festgenommen und geprügelt werden eher diejenigen, die sich gegen den Krieg auflehnen.
Abschliessend müssen wir die «multipolare Welt» Dugins und Putins von der «multilateralen Welt» unterscheiden. Im Westen werden diese Begriffe oft als undifferenziert genutzt. Das sind sie nicht. Was multipolare Welt bedeutet, bei den Russen, habe ich soeben geklärt.
Multilaterale Welt bedeutet im Westen eine Welt, in der Entscheidungen gemeinsam und im Konsens aller Staaten getroffen werden. Bei der russischen Doktrin ist die Bedeutung enger. Multilateralismus, meinen di Russen, gelte nur zwischen den USA und ihren Verbündeten, unter Ausschluss aller anderen. Das Thema kann hier nicht weiterentwickelt werden. Es ist dennoch wichtig, zu wissen, dass die Begriffe Multipolare Welt und Multilaterale Welt auf unterschiedliche Sachverhalte hinweisen.
DAS «GLEICHGEWICHT DER INTERESSEN» ZU MAXIME ERKLÄRT: DAS WILL PUTIN
Grundlage der multipolaren Welt sind daher nicht die Menschenrechte, sondern die Interessen der verschiedenen Akteure und das Gleichgewicht untereinander. Hier übernimmt Putin noch einen Schlüsselbegriff aus der Lehre Aleksandr Dugins. Akteure der multipolaren Welt seien die Zivilisationen – Nicht die Klassen, wie beim Marxismus; nicht der Staat, wie beim Realismus; nicht das demokratische System, wie beim Liberalismus, sagt Dugin.
Zivilisationen werden zu rechtsfähigen Subjekten des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen erhoben. Das Muster dafür biete die Grossraum-Theorie des deutschen Juristen Karl Schmitt, meint Dugin.
Wie entsteht eine Zivilisation und was hat dieser Begriff zu bedeuten, in den Köpfen Dugins und Putins? Zivilisationen sind Pole der multipolaren Welt. Eurasien sei eine Zivilisation, wobei «Eurasien» faktisch dem postsowjetischen und früher russisch-imperialen Raum entspricht. Ein anderes Beispiel, von Dugin und von Putin ausdrücklich und fast wortgleich erwähnt, ist die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO). Diese habe eine neue Ära der Kooperation im Osten eingeläutet.
Was sind «Zivilisationen» im russischen Weltbild
Die Europäische Union ist eine Zivilisation, allerdings mit einem Hacken, meint Dugin. Sie soll die Weltanschauung der «Geopolitik des Meeres» – also der USA – aufgeben und sich an die «Geopolitik des Kernlands» anschliessen – Diejenige, die die internationalen Beziehungen Russlands prägt, wie Dugin 2012 in seinem Kurs für Geopolitik an der Universität Moskau ausführlich erklärt. Europa wird faktisch zum untergeordneten Subjekt der russischen und eurasischen Zivilisation. So ist «das Europa, das wir Russen wollen» – Diesen Wortlaut konnte ich selbst im Juni 2019 anlässlich eines Auftritts Dugins in Lugano hören.
«Zivilisationen» sind also keine ethnischen Einheiten. Sie sind eher Konstrukte, in denen mehrere Völker einem mächtigeren, federführenden Subjekt untergeordnet werden, das die Regeln der betreffenden «Zivilisation» diktiert. Russland im postsowjetischen Raum und in Europa, China in Südostasien, und so weiter. Treiber der multipolaren Welt sind also alle, in der russischen Weltanschauung, die wirtschaftlich, politisch-militärisch, ideologisch und kulturell den USA entgegentreten: China, Iran, Südamerika und weitere, nennt Dugin als Beispiel.
Russland ist bereit, diese Kräfte zu unterstützen. Die Gründung des Fernsehkanals Russia Today in spanischer Sprache, bemerkt interessanterweise Dugin in seinem Vortrag über die multipolare Welt, sei eben mit dem Zweck entstanden, die lateinamerikanischen Länder dabei zu unterstützen, ihre Zivilisation gegen die USA in «unabhängiger Richtung» zu entwickeln.
Diese Aussage widerspiegelt sich in Putins Waldai-Rede, als der Präsident sagt:
«Russland ist bereit, mit Ländern zu kooperieren, die Souverän in ihren fundamentalen Entscheidungen sind. Länder, die gute Beziehungen zu Russland haben wollen, müssen zeigen, dass sie die eigenen Interessen wahrnehmen».
Mit wem will Putin kooperieren? USA und ihre Verbündete einfach zu Gegnern erklärt
Der Satz ist unmissverständlich. Russland ist allen Ländern offen, die sich der internationalen Kooperation mit den USA und dem Westen entziehen. An die Stelle der europäischen Union und der anderen westlich geprägten Institutionen treten nun die Eurasische Union und das berühmt-berüchtigte Projekt eines Europas von Lissabon bis Wladiwostok.
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Hauptgebot der neuen Weltordnung ist die Aufrechterhaltung der Zivilisationen, koste es was es wolle, unter der Führung des Stärkeren. Wenn Georgier, Ukrainer und andere sich nicht als Teile der eurasischen Zivilisation sehen, dann müssen sie mit Krieg und Gewalt unter ihrem Dach gehalten werden. Uiguren und anderen Minderheiten Chinas muss das Grundrecht auf Selbstbestimmung vorenthalten bleiben – Weil in diesem Fall, wie Putin ausdrücklich bemerkt, die Anerkennung von Menschenrechten den Staat gefährde.
In dieser Weltordnung besitzen Gebilde wie die Länder Mitteleuropas, die Kaukasus-Staaten und Zentralasien keine eigenständige Persönlichkeit. Sie können nur als Einflusszonen des Staates bestehen, der die ihnen zugewiesene «Zivilisation» beherrscht. Diesen Grundsatz bringt Putin zu Sprache, indem er sagt, in der Waldai-Rede:
«Die Souveränität der Ukraine kann nur Russland garantieren, denn Russland hat die Ukraine geschaffen».
Diese Aussage ist geschichtlich und juristisch dummes Zeug, aber sie passt in die russische Lehre der multipolaren Welt wie angegossen.
Der Grundsatz gilt nicht nur Ukrainern, Georgiern und den angrenzenden Völkern. Die multipolare Weltordnung sei «die einzige Chance auch für die europäischen Länder – also für uns –, politische und ökonomische Subjektivität auszuüben» fügt Putin hinzu. Jetzt sind wir Europäer dazu nicht bereit, aber:
«Pragmatismus wird triumphieren. Irgendwann müssen der Westen und die neuen Zentren der multipolaren Weltordnung auf Augenhöhe über die gemeinsame Zukunft reden, um ein Gleichgewicht der Interessen herbeizuführen. Der Dialog zwischen Russland und dem echten, traditionellen Westen wird den wertvollsten Beitrag zur Entstehung der neuen Weltordnung leisten».
Die Werte des «traditionellen Westens»
Der «traditionelle Westen» ist der Westen, deren Werte sich mit den Postulaten der westlichen prorussischen, populistischen Parteien abdeckt, egal ob links oder rechts. Die Botschaft ist klar. Russland, im Bunde mit den Russland-freundlichen Kräften Europas, wird unseren Kontinent nach seinem Abbild und Gleichnis neuschaffen.
Noch kurz zu Dugin zurück. Er sagt: «Wir müssen uns darauf konzentrieren, die Zivilisation als Akteur, als Subjekt der Strukturen der multipolaren Welt auszubauen. Das ist das wichtigste Element», sagt der Politologe. Das «Gleichgewicht der Interessen» zwischen den Zivilisationen bedeutet also im Inneren, dass das übergeordnete Subjekt innerhalb jeder «Zivilisation» seine Macht befestigt, mit welchen Mitteln auch immer. Putin sagt wortwörtlich:
«Смена вех – процесс болезненный, но естественный и неизбежный».
«Epochale Veränderungen sind ein schmerzhafter, aber natürlicher und unvermeidlicher Prozess».
Kriege und Gewalt sind zu erwarten und als Schritte eines natürlichen, ununterdrückbaren Triebs nach vorne zu erleiden. Der Ukraine-Krieg ist Ausdruck und Beispiel dieses Ausgleichsprozesses. Man merke, wie oft Putin das Wort неизбежно – unvermeidlich – fallen lässt. Aus einem historizistischen Hintergrund und mit fast religiösem Rausch, sieht er die ganze Menschheit als eine Schicksalsgemeinschaft.
Nach Aussen sieht der Begriff «Gleichgewicht der Interessen» zwischen den Zivilisationen ähnlich aus wie das, was die Lehre der internationalen Beziehungen als «Gleichgewicht der Kräfte» (Balance of Power) bezeichnet. Die Aufrechterhaltung des Kräfteausgleichs überwiegt bei Realisten die Achtung vor Werten und Regeln. So ist es auch in der neuen Weltordnung Putins.
WAS WILL PUTIN UND DIE UNANGENEHMEN WAHRHEITEN, EINFACH ERKLÄRT
Das Weltbild Putins beinhaltet viele Verdrehungen von Geschichte und Gegenwart. Daneben tauchen allerdings Tatsachen auf, die wir im Westen allzu oft vergessen. Wahrheiten, die uns schnell zum Verhängnis werden können, wenn wir die Realität weiterhin tatenlos hinnehmen.
Der «Westen» – also die Welt der offenen Gesellschaft, freien Marktwirtschaft und Menschenrechte – ist tatsächlich eine Minderheit, im Verhältnis zur übrigen Welt. Der UN-Menschenrechtsrat setzt sich in überwältigender Mehrheit aus Staaten zusammen, die keine Menschenrechte beachten. Eine nicht tadellose, aber doch funktionierende Marktwirtschaft besteht faktisch nur im Westen, denn in Ländern anderer Breitengrade wird die Wirtschaft entweder vom organisierten Verbrechen, durch Korruption und Gewalt, von Oligarchen oder vom Staat – oder von all den Letzteren gemeinsam gelenkt.
Eine nicht fehlerfreie und doch offene Gesellschaft, in der die Bürger ihre Talente entfalten können, mit einer im Allgemeinen unabhängigen Justiz rechnen können und die Gesetzgebung durch eine frei gewählte parlamentarische Vertretung beeinflussen, das haben im heute höchstmöglichen Grad nur wir im Westen. Unser Entwicklungsmodell hat viele Lücken, aber alle anderen sind schlimmer.
Als Weltminderheit können wir unser Gesellschaftsmodell nur dann aufrechterhalten, wenn wir ständig unseren geistigen Wettbewerbsvorteil ausbauen. Recherche und Entwicklung bei technischen und geistigen Wissenschaften sind die Grundlage unseres Wohlstands und unserer Freiheiten. Solange wir intellektuell im ersten Rang sitzen, haben wir die Chance, selbst als Minderheit, die Werte unserer Gesellschaft den zukünftigen Generationen zu vererben.
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Was will Putin: Das westliche Modell im Krisenmodus
Wladimir Putin meint, das neoliberale Entwicklungsmodell des Westens stecke in einer doktrinären Krise. Da hat Putin recht. Bei der technologischen Entwicklung behalten wir zwar die Federführung, aber bei den Geisteswissenschaften sind wir heute so schwach wie noch nie. Geisteswissenschaften sind die Voraussetzung der Urteilskraft bei den fundamentalen Wertefragen, bei denen es darauf ankommt, das Richtige vom Falschen zu scheiden – denn es ist doch möglich, das Richtige vom Falschen zu scheiden.
Eine geordnete Politikwissenschaft, als Grundlage der Entwicklung unserer Gesellschaft auf dem sicheren Ufer der Grundwerte, erfordert ein gesundes, breit angelegtes humanistisches Wissen. Der Ukraine-Krieg hat schamlos die intellektuelle Schwäche des Westens entblösst. Abgeordnete der europäischen Parlamente unterstützen den Gräuel des russischen Regimes; Minister und Regierungschefs grübeln wochen-, ja monatelang ergebnislos über Waffenlieferungen; Dozenten tragen verfälschte Lesungen der Geschichte vor; anerkannte, öffentlich-rechtliche Medien bieten Bühnen und Millionen Zuschauer Meinungsführern, bei denen man die elementare Sachkenntnis vermisst.
Der öffentliche Diskurs über den Ukraine-Krieg macht ersichtlich, wie schnell wir tatsächlich die mundtote Minderheit werden können, die Putin und seine Schergen in uns verlachen. Indem wir auf unseren Vorsprung bei den Geisteswissenschaften verzichten, verlieren wir die Fähigkeit, klare Stellungen zu beziehen. Unentschieden zwischen dem Richtigen und dem Falschen, mangels ausreichenden Urteilsvermögens, haben wir die Gleichgültigkeit zu Gerechtigkeit erhoben und führen darüber Debatten, die ins ewig Belanglose ausufern.
So wird es aus uns, den selbsternannten Protagonisten des grossen Welttheaters, hölzerne Puppen einer Vorstadtbühne, in den Händen grauser Strippenzieher.
Ausblick in die Vergangenheit? Was will Putin?
Die unipolare Welt – also die Welt westlicher, unserer Werte – wird bald Vergangenheit, mahnt Putin. Das ist auch wieder wahr, wenn wir gegen die Verdünnung unserer geistigen Verarbeitungskraft nicht zügig entgegensteuern.
Die Welt, bemerkt Putin zurecht, steht vor dem Ausbruch zu neuen historischen Grenzen. Wir sollten pflegen, unsererseits, dass diese Grenzen, wie 1960 bei Kennedy, in die Zukunft aufbrechen; im Weltbild Putins sind die neuen Grenzen ein Tor in die Vergangenheit. Wohin wollen wir denn?
WAS WILL PUTIN: KRIEG GEGEN «UNIVERSALISMUS»
Zuletzt zum vielleicht wichtigsten Ansatz der Waldai-Rede Putins, vom russischen Präsidenten nochmals wortwörtlich aus der Lehre Dugins übernommen. Die westlichen Werte – Demokratie, Menschenrechte, Völkerrecht – beanspruchen Universalismus, also Allgemeingültigkeit für die ganze Menschheit. Daher seien sie ein koloniales Herrschaftssicherungsinstrument des Westens über den Rest der Welt.
Die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte ist kein kolonialer Anspruch des Westens. Sie ist ein Eckpfeiler der menschlichen – also nicht nur der westlichen – Zivilisation. Menschenrechte sind universal gültig, weil:
«Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräusserlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet».
So statuiert der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, 1948 von der UNO erlassen und auch von Russland (damals als Sowjetunion) gezeichnet. Objektive Rechte sind in der Gesetzgebung verankert; subjektive Rechte entstehen aus Rechtsverhältnissen; Menschenrechte gründen sich ausschliesslich darauf, dass wir als Menschen geboren werden. Deswegen geniesst jeder Mensch, egal wo, dieselben Menschenrechte.
Unterscheidet man – auf welcher Grundlage, übrigens? – einen Menschen A, der Grundfreiheiten beanspruchen darf, von einem Menschen B, dem sie vorenthalten werden, verliert der Begriff selbst Menschenrecht seine Grundlage.
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Der Grundsatz der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte hat eine Geschichte, die weit in die Vergangenheit reicht. Er leitet ausdrücklich die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 ein (Art. 1):
«Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten».
Der Urgedanke der Menschenrechte keimt noch früher auf, bei den ersten Zugeständnissen der englischen Monarchie, von der Magna Charta bis zum Bill of Rights, in einem Zeitraum vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. Indem die Allgemeingültigkeit der Grundrechte ablehnt, stellt Russland einen juristischen und politischen Grundsatz in Frage, den die Menschheit sich lang und hart erkämpft hat. Setzt sich die Auffassung Russlands durch, so wird die menschliche Zivilisation um Jahrhunderte zurückversetzt.
Was will Putin, einfach erklärt: Krieg gegen Menschenrechte
Die Negierung der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte ist der vielleicht wichtigste Grundstein der Lehre der internationalen Beziehungen des postsowjetischen Russlands. Geht man davon aus, dass Menschenrechte undifferenziert für alle Menschen gelten, so stürzt das ganze Konstrukt der politischen Theorie Aleksandr Dugins ab – Und damit die Aussenpolitik Russlands der letzten 20 Jahre, unter der Leitung von Wladimir Putin.
Der angebliche Grund der Aberkennung allgemein gültiger Menschenrechte ist, die multipolare Welt solle die Vielfalt der Kulturen berücksichtigen. In der Tat wollen Russland und die anderen illiberalen Staaten Spielräume offenlassen, in denen diktatorische Regierungen ihre Macht ungestört entfalten und sich nur mit gefügigen Zwangsverbündeten umgeben.
Der Westen ist nicht schuldlos: Europa und die USA haben viel auf dem Kerbholz, in ihrer langen Geschichte. Man kann tatsächlich zahlreiche Gelegenheiten nennen, bei denen das westliche Entwicklungsmodell mit kolonialer Anmassung aufgezwungen wurde.
Man kann, mit Dugin, einsehen, dass der Nationalstaat nicht mehr aktuell ist; die Aussage Dugins, es gebe Völker, die sich mit der feingliederigen Technik der offenen Gesellschaft schwer tun, trifft erkennbar auch zu. Dies vorausgeschickt, tut es nichts zur Sache, dass die Menschenrechte und das Völkerrecht als Produkte westlicher Kolonialgier abgetan werden. Grundsätzlich setzt sich das westliche Entwicklungsmodell deswegen durch, weil es erfolgreich ist. Putin meint, die Mehrheit der Menschen wolle vom westlichen Gesellschaftsmodell nicht wissen.
Es besteht zwar eine diffuse antiwestliche Grundstimmung in der Welt, zum Teil begründet, zum Teil aufgrund von Unwissenheit und Übermut, aber: Iranische Frauen, die gegen die Kopftuch-Pflicht protestieren; afrikanische Migranten, die tagtäglich an den Küsten Südeuropas landen; russische Oligarchen und asiatische Aufsteiger, die im Westen studieren und Geschäfte machen wollen – Alle lockt unser Entwicklungsmodell, denn die Menschen streben nach Fortschritt und freier Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Eine ständige Mobilisierung im Namen staatlicher Interessen, einer Religion oder einer «Zivilisation» ist kein Grund zu leben.
Eine Philosophie erklärt: Was Putin will ist nicht einfach Taktik
Unabhängig davon, wie der Ukraine-Krieg ausgeht und wie lange Putin an der Macht festhält, werden wir uns mit der russischen, postsowjetischen Weltanschauung lange noch auseinandersetzen müssen. Sie hat sich in die Köpfe der Entscheidungsträger und in die Öffentlichkeit tief eingeprägt, in Russland und teilweise auch im Westen.
Russland wird von dieser Politik nicht ablassen, solange wir uns nicht kräftig derer erwehren. Nach den militärischen Rückschlägen von Kyiv und Charkiw, haben die Russen ihre Truppen auch aus Cherson abgezogen (mehr >hier). Das ist ein militärischer Rückzug aber kein ideologischer Rückzieher. Es gilt, einen Grundsatz zu unterstreichen, den viele westliche Politiker noch nicht richtig begriffen zu haben scheinen: Die Durchsetzung der russischen Weltanschauung setzt die Abschaffung des Westens als Quelle der offenen Gesellschaft voraus, indem die russische Lehre dem Ersten und Untersten des westlichen Entwicklungsmodells, den Menschenrechten, die Allgemeingültigkeit abspricht und es somit zunichte macht.
Zu diesem Zweck erachtet Russland jedes Mittel für berechtigt – Militärischen Krieg, politische Einmischung in die demokratischen Prozesse, Gas- und Öl–Chantage. Der Ukraine-Krieg zeigt, wie schnell moralische Hemmschwellen übertreten werden, denn die multipolare Welt ist «eine sehr aggressive, harte Position […]. Die multipolare Welt wird erst nach dem abschliessenden und unwiderruflichen Ende der unipolaren Welt entstehen», sei hier nochmals an den Vortrag Aleksandr Dugins erinnert.
Was Putin will und erklärt, auf den Kriegsalltag übertragen
Un nun, abschliessend, noch kurz zur Entwicklung des Ukraine-Kriegs im Lichte der Waldai-Rede Putins. Bei seinem Auftritt hat der russische Präsident seine Absichten in einer flüchtigen und doch schwerwiegenden Aussage ausgedrückt, die ich bereits zitiert habe: «Pragmatismus wird triumphieren. Irgendwann müssen der Westen und die neuen Zentren der multipolaren Weltordnung auf Augenhöhe über ihre gemeinsame Zukunft reden».
Auf den konkreten Alltag des Krieges übertragen, bedeutet das: Putin zermürbt die Ukrainer und den Westen mit Raketen, Terror und Folterung, in der Überzeugung, dass die Ukrainer und der Westen irgendwann zurückweichen, sich auf Verhandlungen einlassen und aus Pragmatismus in die Weltanschauung Russlands einwilligen. Die sogenannten westlichen «Lumpenpazifisten» – darunter populistische Parteien, prorussische Meinungsführer, Kirchen aller Konfessionen, die sich gegen Hilfen und Waffenlieferungen an die Ukraine aussprechen, sie alle teilen die gleiche Einschätzung Putins.
Die Waldai-Rede Wladimir Putins hat glänzend zum Ausdruck gebracht, dass der Ukraine-Krieg nur einen Teil eines Angriffs ausmacht, der in der Tat uns im Westen als Verfechtern der Moderne gilt. Wenn wir unsere Werte auf die andere Seite der «neuen Grenzen» hinüberretten wollen, dann sollten wir uns ernstlich mit der russischen Weltanschauung auseinandersetzen, denn sie ist für uns schädlich.
Das tun wir leider nicht. Wir singen, wie Vögel gesessen auf den Zweigen des Baums, während Russland kräftig am Stamm unserer offenen Gesellschaft hackt.
Zum Ukraine-Krieg kursiert ein Spruch, den die Ukrainer zur Devise ihres Widerstandskampfs erhoben haben: «Wenn Russland aufhört, zu kämpfen, gibt es keinen Krieg mehr. Wenn die Ukraine aufhört, zu kämpfen, gibt es keine Ukraine mehr». Das ist nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit lautet: Wenn die Ukraine und wir aufhören, zu kämpfen, sind die Ukraine und das Entwicklungsmodell der Moderne zu Ende.