Russland und Mobilmachung: Der Auftritt des russischen Präsidenten sorgt im Westen für Emotionen. Eine nüchternere Betrachtung kann helfen. Es bieten sich im Kern zwei Argumente: die Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte und die Volksabstimmungen in den besetzten Gebieten. Die Rhetorik Putins ha sich kaum verändert.
Die Volksabstimmungen zum Anschluss ukrainischer Regionen an Russland bearbeite ich in einem separaten Beitrag. Zu den allgemeinen Inhalten der Rede Putins, nur zwei Anmerkungen:
Putin wendet sich an «alle Völker des historischen Grossrussland.» Das sind alle Länder der ehemaligen Sowjetunion und des alten russischen Reichs. Wer noch bezweifelt hat, dass Putin auf die territoriale Wiederherstellung solcher Staatsgebilde zielt, der räume nun bitte seine Zweifel.
Putin beharrt auf dem Grundsatz, die sogenannte «Militäroperation» ziele auf die «Befreiung» des Donbas. Die Frontlinie ist seit Kriegsbeginn viel länger. Noch eine Bestätigung, dass die Worte der russischen Führung bizarre Abweichungen von der Realität aufweisen.
Russland, Mobilmachung: Aussagen des Verteidigungsministers
Zur Teilmobilmachung an sich: In einem Fernsehgespräch meldete der russische Verteidigungsminister, Sergei Schoigu, mit seltsam seufzendem und angeschlagenem Ton, es seien 300 000 Soldaten «mit Kampferfahrung» einberufen. Dies setzt voraus, dass die russische Armee über einen entsprechenden Rahmen für die Aufnahme der neuen Kräfte verfügt.
Eine solche kostspielige und doch für eine Mobilmachung unentbehrliche Grundlage pflegte die sowjetische Armee. Russland hat sie seit 1991 kräftig abgebaut. Wie Russland die Neueinberufenen in die Armee integriert, bleibt Militärexperten ein Rätsel.
Die Ausbildung von Zivilen aus der Reserve nimmt Zeit. Solche Zeit hat Russland nicht. Alles weist darauf hin, dass die Mobilmachung eine schlecht bis nicht ausgebildete Infanterie liefern wird. Diese soll, laut Putin, die Frontlinie in der Ukraine absichern. In anderen Worten: Die Reserve wird schnell zu Kanonenfutter zur Verteidigung der bestehenden Positionen. Die Zahl der mobilisierten Soldaten ist doch beeindruckend.
Die Reaktionen in Russland. Die Teilmobilmachung gilt ab dem 21. September. In wenigen Stunden wurden alle Flugkarten nach Ländern, in welche russische Bürger visumsfrei einreisen dürfen, ausverkauft. Russische Internet-Seiten, die es noch können, veröffentlichen Anweisungen zur Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen und empfehlen, wie man sich im Falle einer Festnahme verhalten soll.
Die meisten Experten betrachten die Teilmobilmachung mit Skepsis. Ich formuliere den Gedanken so: Der Erfolg dieser Initiative wird man am Menge-Leistungsverhältnis der neu eingesetzten Kräfte messen. Für Russland kämpft eine zahlreiche, aber schlecht ausgebildete und schlimmer geführte Armee, mit älteren, teilweise maroden Kampfmitteln. Die Ukraine stellt eine kleinere, aber höchst motivierte und flexibel geführte Armee, mit den modernsten Waffen nach westlichem Standard.
Die Entwicklung des Kriegs entscheidet sich in diesem Spannungsfeld. Der Einsatz von Atomwaffen wird heute nicht wahrscheinlicher als früher.