Auf der Münchener Internationalen Sicherheitskonferenz besprechen jedes Jahr 500 führende Persönlichkeiten, Aussenminister und Staatspräsidenten die aktuellen Themen der Weltpolitik. Die Zuhörer sind Experten für internationale Beziehungen. Aus den Debatten dieses Jahres ging ein nicht ermutigendes Bild unserer Welt hervor. Es kann vor Vorteil sein, eine Gesamtanalyse zu wagen.
Die 54. Internationale Sicherheitskonferenz fand vom 16. bis zum 18. Februar 2018 statt. Man muss, wenn man die Konferenz verstehen will, alle Vorträge in voller Länge hören, einen nach dem anderen. Dies erfordert ein gewisses Mass an Beharrlichkeit. Im Vergleich zur Konferenz von 2017 räumten die Organisatoren mehr Gelegenheiten für den Austausch zwischen den Rednern und dem Publikum ein. Dies bereicherte die Inhalte der diesjährigen Konferenz nicht wenig. Die folgende Analyse stellt einen aus Platzgründen auf die bedeutendsten Auftritte beschränkten Überblick der Konferenz dar, nach Staaten und Regionen aufgegliedert.
USA: Eine Grossmacht – so erratisch wie noch nie
Aus dem Vergleich zwischen den Äusserungen von vier US-Senatoren, die auch dieses Jahr zur heuer von Victoria Nuland moderierten Congressional Debate über die Aussenpolitik der Vereinigten Staaten aufgefordert wurden, und dem Auftritt von Herbert R. McMaster, dem Nationalen Sicherheitsberater der USA, ergaben sich zahlreiche Widersprüche. Stellt man die Vorträge der amerikanischen Gäste denjenigen der europäischen Staats- und Regierungschefs gegenüber, fallen die Gegensätzlichkeiten noch deutlicher auf.
Die vier Senatoren (Michael Turner e James E. Risch in Vertretung der Republikaner, Sheldon Whitehouse e Jeanne Shaheen der Demokraten) beruhigten die Zuhörer in Bezug auf die Stringenz der US-Aussenpolitik und die Unerschütterlichkeit der internationalen Bündnisse der Vereinigten Staaten. Grundlage dafür seien und bleiben die Grundsätze von individueller Freiheit, Staatsrechtlichkeit, Kampf gegen die Autokraten. McMaster vertrat dagegen, eher mit den Tönen eines lauten Verkäufers als mit denjenigen eines Staatsmanns, die Stimme Donald Trumps. Nach einer pflichtgemässen Einführung über den Kampf gegen Terror und Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, liess sich McMaster auf Erwägungen über den Abschub von Einwanderern ein und plädierte für die Beschränkung der wirtschaftlichen Beziehungen mit Ländern, in denen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit nicht geachtet werden. Er skizzierte damit eine kurzsichtige, rein defensive Darstellung der Weltverhältnisse.
In Anbetracht der erkennbaren Widersprüchlichkeiten in Stil und Inhalt zwischen den Äusserungen der vier Senatoren und dem Vortrag McMasters stellte ein Konferenzteilenehmer aus dem Publikum eine Frage, die schon letztes Jahr hier zu hören war und man zwölf Monate danach nicht mehr erwartet hätte: Auf wen soll man eigentlich hören, in den USA? Sind die Worte Donald Trumps überhaupt ernst zu nehmen? Die rutschigen Antworten der vier Senatoren konnten das Rätsel nicht lösen. Man vermisste dieses Jahr in München den Beitrag des republikanischen US-Senators John McCain. Wegen seiner bekannten, schweren Krebserkrankung konnte er leider nicht nach Europa fliegen. Die Einschätzungen von John McCain muss man zwar nicht unbedingt im Einzelnen teilen, aber er konnte jedes Jahr, dank seiner Kompetenz und seinem persönlichen Engagement, eine überzeugende, überparteiliche und für die europäischen Alliierten weitgehend beruhigende Darstellung der US-Aussenpolitik abliefern. Das Ausbleiben seines Beitrags liess den vier Senatoren freien Raum: Zu den Kontroversen über das internationale Verhalten der USA enthielten sich Letztere der Stellungnahme oder sie stockten, ohne bemerkenswerte Einfälle, auf bekanntem Terrain.
Zwischen Legislative und Exekutive herrscht zwar Gewaltenteilung, dennoch erschien die aus der Debatte hervorgehende Darstellung der heutigen US-Aussenpolitik nicht auf der Höhe einer Grossmacht. Die Vorträge bestätigten die bestehenden Vorbehalte gegen die Weltanschauung der USA unter Donald Trump. Den Auftritten McMasters und der vier Senatoren mangelte es ausserdem an einer proaktiven Vision der internationalen Beziehungen im Hinblick auf soziale Ungleichheit, Bildungsfrage, Klimawandel u.v.a. als Quellen der globalen Instabilität. Hier machte sich der Spagat zwischen dem europäischen und dem US-Amerikanischen Ansatz in Bezug auf die wesentlichen Fragen der Weltpolitik so sichtbar wie noch nie.
Europa: Deutschland und Frankreich stark, Polen schwach, Italien nicht gemeldet
Die Vorträge, die eine umfassende Einschätzung der internationalen Verhältnisse und eine überzeugende Strategie angesichts der bestehenden Herausforderungen darboten, stammten zweifelsohne von der Verteidigungsministerin der Bundesrepublik Deutschland, Frau Ursula von der Leyen, und von ihrer französischen Amtskollegin, Frau Florence Parly. Beide Ministerinnen eröffneten die diesjährige Konferenz mit einem gemeinsamen Auftritt. Einen ähnlichen Weitblick brachten die Vorträge des deutschen Aussenministers Sigmar Gabriel und vom französischen Premier-Minister Édouard Philippe auf. Frau von der Leyen bekräftigte die Notwendigkeit, den Grundsatz der PESCO, der beim Aufbau der europäischen, gemeinsamen Verteidigung bereits eingeführten ständigen strukturierten Zusammenarbeit, auf die gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik auszuweiten. Solange die europäische, gemeinsame internationale Aktion an das Gebot der Einstimmigkeit gebunden bleibt, wird sie nie effizienter werden (Parly). Dieses Argument übernahm auch Jean-Claude Juncker, der Präsident der Europäische Kommission, dessen Münchener Rede wahrscheinlich nicht in die Annalen eingehen wird.
Im Beharren auf sozialen Fragen, auf dem Klimawandel und dem Kampf gegen die Pandemien, sowie auf Gleichberechtigung und Menschenrechten als Schlüssel der globalen Sicherheit («Was hilft, wenn wir den Irak vom IS befreien und die Familien dort dann verhungern?», so von der Leyen) hebt sich heute die europäische Weltanschauung deutlich von derjenigen der USA ab. Das Konzept einer erweiterten globalen Sicherheit blieb bei den Auftritten der US-Repräsentanten beinahe komplett aus. Noch ein Unterschied: Europa unterstützt die Vereinigten Nationen als Regulierungswesen der globalen Weltordnung, während die Vereinigten Staaten ihre Zuschüsse an die UNO verringern und sich zunehmend kritisch gegenüber allen internationalen Institutionen stellen, die nicht explizit den Interessen der USA dienen.
In Europa haben mittlerweile alle, oder fast alle erkannt, dass wir uns nie sicher glauben können, solange in der Welt Gebiete fortbestehen, in denen Extremisten in verarmten und ungebildeten Bevölkerungen Nachwuchs finden, in Völkern, die wegen der Folgen des Klimawandels ständig auf der Flucht, Pandemien und Ungerechtigkeiten aller Art ausgesetzt sind. Wie es bei einer der interessantesten Münchener Debatten thematisiert wurde, bedeutet die Niederlage des sogenannten «Islamischen Staats» in Syrien und im Irak bei weitem nicht, dass wir den Dschihadismus besiegt haben. Die bestehenden Entwicklungsprobleme sind dort zu lösen, wo es sie gibt. Das überzeugende Gespräch von Samstagnachmittag über die Entwicklung des Sahel, zwischen vier dynamischen Staatspräsidenten und Aussenministern aus Afrika (Burkina Faso, Rwanda, Mali und Tschad), bewies noch einmal eindringlich, wie unübersehbar das Thema Entwicklungshilfe im Hinblick auf die globale Sicherheit bleibt. Europa und die USA scheinen die Lage deutlich unterschiedlich aufzufassen: Einerseits fordert McMaster kurzsichtig auf, «die Welt so zu nehmen, wie sie ist». Anderseits verweigern Florence Parly, Sigmar Gabriel und Édouard Philippe jeden Fatalismus. Sie plädieren für ein erweitertes Sicherheitskonzept und stehen für eine offene Gesellschaft, die «ihre Zukunft gestaltet und nicht erduldet» (Gabriel). Das Misstrauen gegen China wächst: Das Projekt der «neuen Seidenstrasse» beunruhigt wegen des in ihm lauernden Potenzials an geopolitischer Einflussnahme, hinter der Fassade der offenen Welthandelspolitik Pekings.
Bemerkenswert, dennoch aus Gründen, die denjenigen, die für die bisher erwähnten europäischen Beiträge gelten, genau entgegengesetzt sind, war der schwache und widersprüchliche Auftritt des neuen Regierungschefs Polens, Mateusz Morawiecki. Man kann sich eigentlich nicht erklären, wie der Premierminister eines Landes, das ein Binnenbündnis von Staaten innerhalb der EU anführt, nämlich die Visegrád-Gruppe, eben das Entstehen von Binnenbündnissen innerhalb der EU zur Durchsetzung von Interessen einzelner Mitgliedsstaaten kritisieren kann. Damit nicht genug: Im Anschluss an den Vortrag Morawieckis meldete sich der Journalist Ronen Bergman, aus dem Publikum, zu Wort. Der Sohn jüdisch-polnischer Eltern, die von anderen polnischen Bürgern bei der GESTAPO denunziert wurden und nur in letzter Minute mit heiler Haut davonkommen konnten, befragte den polnischen Regierungschef über das neue Gesetz, das die Zuschreibung Polen eine Mitverantwortung am Holocaust bestraft. «Meine Eltern entkamen um ein Haar dem Tot. Meine Mutter schwor, dass sie nie wieder Polnisch sprechen würde, für den Rest ihres Lebens. Wenn ich jetzt in Polen von diesem Vorfall erzähle, werde ich als Verbrecher angesehen?»
Die eigentliche Antwort auf diese Frage war der lange Applaus, mit dem alle Anwesenden dem sichtlich berührten Journalisten ihr Respekt zollten. Die Antwort des polnischen Regierungschefs bestätigte dagegen, dass auch Morawiecki – wie alle anderen Befürworter dieses Gesetzes in Polen – sich mit dem Versuch, das Gesetz mit sachlichen Argumenten zu begründen, nur festfährt. Er scheint, dabei kaum zu erkennen, dass der betreffende Erlass viel grössere Bedenken als Instrument der Einschüchterung und Einschränkung der Freiheit von Meinung und Recherche erregt. Morawiecki, der die Fragen aus dem Publikum auf Englisch beantwortete, beging, noch dazu, einen peinlichen Fehler, vermutlich wegen einer unzureichenden Beherrschung der Sprache, in jenem höchst gespannten Moment der Konferenz. Er fügte nämlich hinzu, dass es unter den Peinigern des Holocausts auch jüdische Täter gab, was zu entsetzten Reaktionen in den Medien der ganzen Welt führte. Die Kosten der Schatten-Macht von Jarosław Kaczyński, dem eigentlichen Drahtzieher des polnischen Staates, werden für Polen jeden Tag teurer. Kaczyński wählt für Führungspositionen Politiker niedrigen Profils aus, die sich seinen Anweisungen brav beugen; vor Fragestellungen, die zumindest eine bessere dialektische Begabung voraussetzen würden, geraten sie scheinbar in Konfusion.
Zu verschiedenen Punkten der Konferenz wurde es über die Rolle der sich im Aufbau befindenden, gemeinschaftlichen europäischen Verteidigung beraten. Soll sie sich als Pfeiler der NATO oder in Widerspruch dazu entwickeln? Es schien unbestreitbar, dass die Verteidigungsstruktur der EU innerhalb der NATO agieren und dabei die lang ersehnte, effizientere Koordination zwischen den kontinentalen Streitkräften erschaffen soll. Angesichts der Differenzen bei der Auffassung der internationalen Beziehungen zwischen Europa und den USA, die aus der Konferenz, von den Lippenbekenntnissen abgesehen, deutlich hervorgingen, kann man sich zurecht die Frage stellen, wie lange noch Europa und die USA ein gemeinsames Bündnis weiterführen können. Seit dem Ende des Kalten Krieges entspricht nämlich die NATO keiner geopolitischen Notwendigkeit mehr. Sie hat nun den Zweck, Nationen mit gemeinsamen Grundsätzen und Visionen zu vereinen. So wie es läuft, könnte sich das gemeinsame Sichbekennen zu Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft, der eigentliche Klebstoff, der Europa und die Vereinigten Staaten zusammenhält, als nicht mehr ausreichend erweisen.
Das zweite Jahr in Folge fehlte es in München an einem Beitrag aus Italien. Die südliche Halbinsel befindet sich im Mittelpunkt einer der Entwicklungen, die seit Jahren die internationale Debatte monopolisieren, nämlich die Migrationskrise. Trotzdem konnte Italien auch heuer keine Persönlichkeit und keine Ideen auf der Höhe der Münchener Debatten stellen. Mit diesen Voraussetzungen darf es nicht wundern, dass die Stimme Italiens ungehört verhallt, wenn Rom für Änderungen am europäischen Migrationsrecht plädiert oder die Wiederaufstellung von innereuropäischen Grenzposten am Brenner und an der Grenze mit Südfrankreich bedauert.
Naher Osten (1): Syrien und Russland, Kabinettstück des Surrealismus
Man hätte nicht geglaubt, dass dieses Jahr, in München, das Nahost-Mosaik noch konfuser hätte erscheinen können, als im vergangenen. Und trotzdem war dies leider der Fall. Wie der UNO-Generalsekretär Antonio Guterres in seiner Eröffnungsrede bemerkte, ist die Lage im Nahen Osten mittlerweile nur undurchsichtiger geworden. Die neuesten Entwicklungen haben die Machtkonstellation gesprengt, die bisher für die regionalen Konflikte zwar keine Lösung, aber immerhin analytische Ansätze lieferte.
Zu Syrien: Trotz der vielen Vorbehalte gegen die Aktion der Obama-Administration kann man nicht verschweigen, dass die frühere US-Regierung immer und wieder darauf hinwies, dass am Anfang der Syrien-Krise die Diktatur von al-Assad steht. Dieses Jahr schien in München zur Selbstverständlichkeit erhoben, dass niemand mehr ernsthaft eine Entthronung al-Assads in Betracht zieht, und zwar nach dem zynischen Konzept, das bei den Russen besonders beliebt ist und ungefähr so klingt: Da wir in Libyen und im Irak festgestellt haben, dass der Sturz von grausamen Diktatoren zu Instabilität und zum Scheitern von ganzen Staaten führt, belassen wir die Diktatoren da, wo sie sind. Das Argument, das mittlerweile auch die Trump-Administration sich ohne Bedenken zu eigen gemacht hat, bekräftigte in München Aleksej K. Puškov, der Chef des Medien- und Kommunikationsausschusses des Rates der Russischen Föderation. Russland akzeptiert formell den Übergang zu einer neuen syrischen Regierung, aber es behält die Federführung der Entwicklungen in Syrien straff bei sich. Eine Ablösung al-Assads würde auf jedem Fall die Interessen Moskaus berücksichtigen und könnte zum Beispiel durch eine Farce-Wahl erzielt werden, um die Formalisten stummzuschalten.
Auf derselben Linie stand der Aussenmister Russlands Sergej V. Lavrov. Es ist durchaus denkbar, halb scherzend, halb im Ernst, dass er, mindestens seit einigen Jahren, seine Reden immer aus den gleichen gefalteten A4-Blättern liest. Nur, die Töne sind stärker und stärker geworden. Übrigens bleiben seine Reden nur im Russischen völlig verständlich, denn der Minister spricht mit rasender Geschwindigkeit, ohne jede Rücksicht auf Zuhörer und Dolmetscher.
Die einzige Stimme, die bei dieser Debatte noch darauf hinwies, dass der Schlüssel der Syrien-Krise in der Beseitigung der seit zwei Generationen andauernden Diktatur al-Assads liegt, war diejenige von Nasr Al-Hariri, dem Chef des syrischen Verhandlungsausschusses für die Friedensgespräche in Genf und Astana. Im vergangenen Jahr hatte diese undankbare Aufgabe die junge Bürgerrechtlerin des syrischen Arabischen Frühlings Noura Al-Jizawi, den syrischen Gefängnissen entkommen, auf sich genommen. Wenn die Syrien-Debatte das Ende des al-Assad-Regimes nicht einmal in Aussicht stellt, verharrt die Diskussion in einer nervigen Atmosphäre des Surrealismus und ruft unvermeidlich verärgerte Reaktionen bei den Vertretern der syrischen Zivilgesellschaft (oder von dem, was davon übrigbleibt) hervor. Mittlerweile fordert der syrische Konflikt jeden Tag noch Opfer unter den Schlägen aller möglichen Armeen, selbstverständlich auch des Heeres al-Assads, mit der Unterstützung der russischen Luftwaffe.
Naher Osten (2): Israel und arabische Staaten, Misstrauen und neue Bündnisse
Der historizistische Ansatz, der den stürmischen Auftritt des israelischen Regierungschefs Benjamin Netanyahu prägte, half beim Auflösen des nahöstlichen Gewirrs kaum weiter. Die Geschichte wiederholt sich nie wirklich so genau, wie wir manchmal gerne möchten. Der Vergleich zwischen dem internationalen Iran-Atomabkommen von 2015 und dem Münchener Abkommen von 1938 – in dem Frankreich, das Vereinigte Königreich und Italien die Annexion des Sudetenlands an das Dritte Reich billigten, in der Illusion, Adolf Hitler abzuschalten – war für Netanyahu, sachlich und methodologisch, ein Fehltritt. Sein Vortrag war für jene Zuhörer, die von einem Regierungschef aus dem Nahen Osten eine nüchterne Darstellung der Verhältnisse in der Region erwarteten, enttäuschend, denn Netanyahu wählte exzessive Töne («Der Iran soll nicht unsere Entschlossenheit testen») und inszenierte dabei das Schwingen von metallenen Überresten einer – so Netanyahu – im israelischen Gebiet abgestürzten iranischen Drohne.
In allem Freimut: Die Sorgen Israels um die Aktivitäten des Iran sind begründet. Teheran macht auf Syrien immer stärker Druck und baut somit einen eigenen Brückenkopf in Richtung Mittelmeer auf. Israel befürchtet, zwischen die Backen einer Zange zu geraten, wodurch der ihm ausdrücklich feindselige Iran das israelische Gebiet über Meer und über Land angreifen könnte. Die Entwicklung des iranischen Atompotenzials, so Netanyahu, muss «mit oder ohne Atomabkommen» verhindert werden. Der frühere US-Aussenminister John Kerry, der an der Debatte teilnahm, wies Netanyahu ohne Wenn und Aber darauf hin, dass das Atomabkommen eben dazu dient, ohne Gewaltanwendung den Iran von der Entwicklung von Nuklearpotenzialen abzuhalten. «Wenn wir jetzt das Abkommen aufkündigen, müssen wir ganz von vorne anfangen und den Iran bombardieren, weil dort Atomwaffen entwickelt werden. Dank dem Abkommen haben wir Inspektoren vor Ort, wir haben die Tätigkeiten des Iran deutlich beschränkt» (Kerry).
In den Worten des Aussenministers Mohammad J. Zarif leugnete der Iran alles das ihm Zugeschriebene und schlug die Einberufung eines regionalen Forums für die Besprechung des Schicksals des Nahen Ostens vor. Der Vorschlag ist interessant aber totgeboren: Israel und Saudi-Arabien sind auf keinen Fall bereit, an einer solchen Gesprächsrunde teilzunehmen. Die Iraner sind dessen wohl bewusst. Wie ernsthaft sind solche Vorschläge und glaubwürdig die Menschen, die sie einbringen?
Es wird immer deutlicher, dass der Nahe Osten einer Diagnose und einer Pflege bedarf, bei denen jene Weltregion als Ganzes betrachtet wird. Dies setzt bei den dortigen politischen Verantwortungsträgern ein Mass an Intelligenz und Weitsichtigkeit voraus, dem die jetzigen Protagonisten leider nicht zu entsprechen scheinen. Ganz dagegen, versteift es sich dort eine Teilung, die grosso modo die entgegengesetzten schiitischen und sunnitischen Fronten widerspiegelt. Russland bekennt sich eher zur ersteren, unterdessen aber liefert Moskau Waffen an Saudi-Arabien, das der letzteren angehört; Die USA üben scharfe Kritik am schiitischen Iran aus und werfen ihm vor, er unterstütze den internationalen Terror, doch Washington stärkt zugleich das Bündnis mit dem sunnitischen Saudi-Arabien und stellt sich dabei über die nachgewiesene Rolle Riads bei der Finanzierung von Radikalisierungszentren in Europa und der Welt anscheinend nicht die leiseste Frage.
Keinen Trost brachte in dieser Hinsicht der Vortrag des Aussenministers Saudi-Arabiens. Wie jedes Jahr in München präsentierte er sein Land nochmals als eine offene Realität. Sozialer Fortschritt und wirtschaftliche Umstellung seien dort in vollem Gange. Dieser Prämisse fügte er eine lange Reihe von nicht weniger zu erwartenden Anschuldigungen gegen den Iran hinzu. Es ist kein Wunder, dass zwischen Riad und Israel eine neue, unverhoffte Atmosphäre der Verständigung entstanden zu sein scheint. Auf die Frage über die Zukunft der Zwei-Staaten-Lösung für Palästina, antwortete Netanyahu, dass «wir den neugefundenen Beziehungen mit den arabischen Ländern im Rahmen der strategischen Neuorientierung in der Region eine Chance geben sollten. Das ist nicht etwas, das wir uns ausgedacht haben, es ist eine tiefgreifende Veränderung, die ich mir zu meinen Lebzeiten nicht einmal ausmalen konnte, dass es jemals passiert. Wir haben eine Schwelle überschritten. Wir sollten diesen Entwicklungen eine Möglichkeit geben, damit Israel Sicherheit für sich schaffen kann und zugleich die Palästinenser sich selbst regieren können.» Hier wies Netanyahu, aus seinem Blickwinkel, zum einzigen Mal auf Optimismus hin, in einer Debatte, die sonst konkrete Gefahren von neuen und schwerwiegenden Konflikten ans Licht brachte.
Offenen Fragen: Nukleare Sicherheit, Weltwirtschaft und geopolitische Risiken
Viel Zeit räumte die Sicherheitskonferenz der Diskussion um die nukleare Sicherheit ein. Wir setzen heute automatisch dieses Thema mit Nordkorea in Verbindung: Die koreanische Kontroverse stellt allerdings nur einen Teil einer Fragestellung dar, die man «sehr ernst nehmen sollte,» so der ehemalige Hohe Vertreter für die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik der EU, Javier Solana, der sich aus dem Publikum zu Wort meldete. Ernste Sorgen erregen u.a. die mögliche Anwendung der künstlichen Intelligenz bei der Steuerung von atomaren Waffensystemen sowie die Renovierungsvorhaben des Kernwaffenarsenals Russlands und der Vereinigten Staaten. Der Wortwechsel zwischen den Vertretern der nuklearen Grossmächte, dem stellvertretenden US-Aussenminister John Sullivan und Sergej I. Kisljak (Mitglied des Rates der Russischen Föderation), bestätigte, dass es auch zu diesem Punkt, zwischen Russland und den USA, beunruhigende Differenzen bestehen. Aus der Perspektive der Ökonomie sprach die Leiterin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde. Die Weltwirtschaft entwickle sich zwar gut, so Lagarde; die Instabilität aber, die aus den vielen Krisenherden erwächst, gefährde diese Entwicklung in heute nicht zu vernachlässigendem Masse.
Schlussfolgerung: Licht und Schatten
Aus der diesjährigen Sicherheitskonferenz entstand dieses Fazit: Wer heute, bezüglich der internationalen Beziehungen, einen umfassenden, inklusiven Ansatz sucht, der wird eher ein Europa fündig als anderswo in der Welt. Nicht alle, im Alten Kontinent, verfügen über angemessene Strategien und Intelligenzen, aber Frankreich und Deutschland können doch Menschen und Ideen stellen. Das ist bei den anderen europäischen Akteuren leider nicht der Fall, oder nicht in gleichem Masse. Italien und Polen, kraft ihrer Geschichte, Dimension und Geographie, könnten wichtige Beiträge leisten. Aus den unterschiedlichsten Gründen sind diese Länder heute nicht in der Lage, mit den anderen Partnern auf Augenhöhe zu reden.
In Afrika, besonders in dessen westlichen Teil, wächst eine Generation von Staatslenkern heran, die sich für die Stabilität jener Länder einsetzt. Fast 60 Jahre nach dem Ende der Dekolonisierung beginnen die Institutionen solcher Staaten langsam, zu funktionieren. Mit afrikanischen Politikern zu reden, heisst heute nicht mehr, dass man immer nur mit blutdürstigen Diktatoren in Militäruniform verkehren muss. Die Möglichkeit, viele Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen, von der Steuerung der Migrationsströme bis hin zum Kampf gegen den Terror, liegt in der Fähigkeit von Afrika und Europa, die notwendigen Instrumente zu entwickeln und in enger Zusammenarbeit angemessene Strategien umzusetzen.
In einer allgemeineren Perspektive betrachtet, steht Europa für die Aufrechterhaltung des völkerrechtlichen Regelwerks der Nachkriegszeit und für eine idealistische, institutionalistische Vision der internationalen Beziehungen. Andere Akteure, darunter in erster Linie die USA, neigen heute zu einem Neorealismus, dem eher Ansätze aus Mitte des 20. Jahrhunderts zugrunde zu liegen scheinen, die man schon längst in den Archiven der Geschichte vergraben glaubte. Man kann sich nicht der Bemerkung enthalten, dass eine solche Neubelebung von alten Weltbildern davon herrührt, dass die Regierenden vieler Länder den Herausforderungen unserer Zeit nicht gewachsen sind, dass sie die notwendige Weitsichtigkeit und Innovationskraft nicht aufbringen können.
Staatslenker kurzen Blicks und nicht ausreichender Bildung, von einer Wählerschaft getragen, die starke Gefühle erwartet und sich für Inhalte fast nicht mehr interessiert – auch in München hat man viele gehört. Solange die Wähler sich bei ihrem Wahlverhalten nicht wieder an Qualität und Intelligenz der zu Wählenden orientieren, werden auch bei den internationalen Beziehungen wichtige Fragen nur falsche oder gar keine Antworten bekommen. Leider geht es dabei um dringende Fragestellungen und Herausforderungen, die Neuland für alle sind.