Nach dem Mord des russischen Aktivisten Boris Nemcov kamen in Moskau und anderen Städten Russlands Zehntausende Menschen zusammen. Von den westlichen Medien wurden die Kundgebungen als ein Verdienst der russischen Opposition gewürdigt. So viele Bürger, die geschlossen gegen Putin und sein Machtsystem demonstrieren, habe man früher noch nie gesehen.
Welche Botschaft die einzelnen Teilnehmer der Kundgebungen eigentlich kundgeben wollten, werden wir nie wirklich erfahren. Nach der Tötung Nemcovs liess ich den Fernseher den ganzen Tag laufen. Absichtlich wählte ich regierungstreue russische Medien wie Rossija24, Pervyj Kanal und Rossija 1, die dort auch die wichtigsten sind. Zum Gedenken des Opfers wurden immer wieder Bilder, Filmausschnitte und Spots mit dramatischer Hintergrundmusik ins Fernsehprogramm eingeblendet. Nemcov auf dem Markt, Nemcov mit El’cin, Nemcov mit Putin.
Dennoch waren alle Kommentare grundsätzlich auf die gleiche These abgestimmt. Der Mord Nemcovs sei ein Versuch, die Regierung Russlands zu destabilisieren. Fremde Kräfte haben den mittlerweile in die Bedeutungslosigkeit geratenen Oppositionspolitiker in einer spektakulären Art und Weise erschossen, mit der Absicht, russische Regierungskreise zu beschuldigen und somit das Land abzuschwächen. Andere Deutungsversuche waren auch in den gedruckten Medien nicht zu lesen. Nur oppositionsnahe, bei kleineren Minderheiten beliebte Medien wie Dožd’ TV oder Novaja Gazeta versuchten andere Wege.
Ich wage zu bezweifeln, dass die vielen Menschen, die in Moskau nach dem Mord Nemcovs marschierten, wirklich kompakt gegen die Regierung Russlands auftraten. Sie demonstrierten zwar gegen die Mandanten der Tötung und das Klima des Terrors, das dieser Mord im Lande herbeigeführt hat. Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass viele Teilnehmer der Kundgebung den Begriffen «Mandant» und «Terror» eine ganz andere Bedeutung beimassen als wir, und sich ihre sehr allgemein gehaltenen Losungen und Transparente nicht gegen den Gegenstand richteten, den wir glauben, sondern eher gegen den bösen «Westen» (zapad). Ein für uns sehr allgemeiner, in Russland hingegen viel genauerer Begriff. Okzident ist dort alles, was sich in westlicher Richtung jenseits der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion, oder, wenn man auf die nicht leisen Stimmen der extremen Flügel zuhört, jenseits der ehemaligen Grenzen des russischen Reiches befindet.
Wir sollten nie vergessen, dass die überwältigende Mehrheit der in Russland lebenden Russen die Welt genau umgekehrt anschaut, als wir sie anschauen. Wo wir Angreifer sehen, sehen die Russen Befreier. Wenn wir von freiheitlicher Opposition sprechen, spricht man dort von geldgierigen und Russland-feindlichen Politikern. Die Medien spielen bei der Meinungsbildung eine Schlüsselrolle. Die Manipulation der Medien ist auch bei uns Tatsache. In unseren Ländern scheint die Gesellschaft dennoch deutlich besser ausgerüstet zu sein. Selbst in Ländern, in denen die Qualität und Unabhängigkeit der Medien eine historische Tiefe erreicht, wie zum Beispiel Italien, vertritt die Presse immerhin ein breites Spektrum an Denkrichtungen. In Russland ist das nicht der Fall. Die Bevölkerung scheint sich damit weitgehend abgefunden zu haben. Sie findet den Sachverhalt anscheinend sogar beruhigend.
Wie gross und gefährlich die Kluft zwischen unserer Weltanschauung und der Wertvorstellung einer grossen Mehrheit der heutigen Russen ist, wird meistens unterschätzt. Denn es geht nicht um Meinungsverschiedenheiten. Es werden Grundsätze des Völkerrechts und die Grundlagen der Koexistenz aufs Spiel gesetzt.
Russland ist ein grossartiges Land. Aus unserer Geschichte und Gegenwart ist es nicht wegzudenken. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fühlt sich Russland seines Grossmachtstatus enthoben. Die Wege, die es eingeschlagen hat, um wieder auf die Bühne zu treten, könnten nicht schlimmer sein.