Das jüngste Buch von Michela Murgia könnte man als misslungene Parodie ignorieren. Die Lektüre lohnt sich doch. Frau Murgia beschreibt weniger ihr Land, als vielmehr sich selbst und die Kreise, aus denen sie stammt. In einer der unglücklichsten Stunden Italiens, scheinen viele Intellektuelle sich über Faschismus immer noch nicht im Klaren zu sein.
Stellen Sie sich mal vor, Sie stöbern im deutschsprachigen Internet auf der Suche nach irgendwas und stossen plötzlich auf eine Seite, die Ihnen einen Nazi-Meter anbietet. Nein, die Seite stammt nicht von irgendeiner Gruppierung von Rechtsextremisten. Sie ist eine ganz normale Artikelseite einer führenden deutschen Tageszeitung, sagen wir mal, der Frankfurter Allgemeinen oder der Süddeutschen. Ein Fragebogen mit 65 Kästchen starrt Ihnen ins Gesicht. Fragen beantworten, Zutreffendes ankreuzen und, am Schluss, Schaltfläche anklicken. Aufschrift auf der Schaltfläche: Meine Nazi-Rate errechnen. Gleich daneben, eine Buchempfehlung.
Sie notieren den Buchtitel und gehen in den nächsten Buchladen rein. Sie schauen herum, dass sich kein anderer Käufer in Hörweite befindet, und sprechen leise die Verkäuferin an, ob sie nicht etwa das neue Buch kennt… ja, das von der berühmten Autorin so und so, im Fernsehen spricht man seit Wochen die ganze Zeit nur noch darüber… Am Ende müssen Sie den vollständigen Titel doch aussprechen: Anleitung, um Nazist zu werden.
Genau das, nur auf italienische Verhältnisse übertragen, habe ich vor einigen Tagen erlebt, als ich im oberitalienischen Varese, einen Katzensprung von der schweizerischen Grenze westwärts, das Buch Michela Murgias Istruzioni per diventare fascisti – zu Deutsch: Anleitung, um Faschist zu werden – kaufen wollte. Im Buch fand ich auch, im letzten Kapitel, die Druckversion des Faschistometers, auf dessen virtuelle Version ich vorhin im Internet gestossen war. Ich bin ein Mensch der alten Schule und nutze Termini wie Faschist, Nazist, Kommunist immer noch mit Vorbehalt und meistens mit leisester Stimme. Die Antwort der Verkäuferin war allerdings bemerkenswert: «Naja… solange man eine Anleitung dazu braucht, heisst es immerhin, dass nicht alle Faschisten geworden sind.»
Kein Horrorfilm, italienischer Alltag
Zwölf Euro kostete mich der Witz, und dazu einen halben Tag Lektüre, denn das Werk macht nicht einmal 100 Taschenbuchseiten aus, mit grosszügigen Leerzeilen und zahlreichen weissen Zwischenseiten. Und trotzdem: Seit Wochen liest man im italienischen Facebook nur noch Einträge wie: Ich habe den Faschistometer ausgefüllt, er sagt, ich bin so-und-soviel Faschist! Zurück zum deutschen Umfeld: Stellen Sie sich eine Menge friedliebender Bundesürger vor, die durch Berlin, Frankfurt oder München stolzieren und verkünden: Ich bin so-und-soviel Nazist! Sie kehren nach Hause zurück, machen den Fernseher an und erkennen die Autorin, allgegenwärtig in allen Kanälen, die ihr Buch mit berühmten Journalisten und Moderatoren bespricht. Das Buch erlangt den fünften Platz der Buchmarktstatistik und wartet nur darauf, zum Schlager des Weihnachtsgeschäfts zu werden. Kein Horrorfilm. Italienischer Alltag.
Man könnte das Büchlein als misslungene Parodie abstempeln und ignorieren. Übrigens ist der Text ironisch gehalten. Die Lektüre lohnt sich doch, und zwar nicht, weil das Buch Entwicklungen der italienischen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit erörtert, was auch mit Ironie durchaus gelingen könnte. Frau Murgia beschreibt weniger ihr Land, als vielmehr sich selbst und die Kreise, aus denen sie stammt. Das ist nicht ohne Interesse, für diejenigen, die Italien von aussen beobachten und soweit wie möglich verstehen möchten.
Ich habe Frau Murgia als Schriftstellerin geschätzt, in einer nicht weiten Vergangenheit. Ich teile viele ihrer Überzeugungen nicht, aber das spielt keine Rolle. Sie ist, kaum zu bestreiten, eine gut gebildete Frau. Sie spricht ein beneidenswert kultiviertes und trotzdem breiten Massen von Zuhörern zugängliches Italienisch. Als Autorin und politische Aktivistin hat sich die überzeugte Katholikin für brisante soziale Themen und für ihre Heimatinsel Sardinien eingesetzt, sie kandidierte dort sogar als Landesgouverneurin. Murgia besucht heute eine jede Fernsehshow als etabliertes Mitglied jener Fernsehprominenz, zu der sie von ihren sardischen Ursprüngen aufgestiegen ist. Italien bietet immerhin Schlimmeres.
Die Entwicklungen der letzten Jahre und Monate, darunter hauptsächlich die Migrationskrise und der Amtsantritt der populistischen Regierung, haben die italienische Gesellschaft tiefgreifend verwandelt. Andere meinen, Italien habe sich kaum verändert, durch die Ereignisse würde nur das nie wirklich weggespülte Unterbewusstsein der Nation wieder hochgeschwemmt. Wie dem auch sei, das Italien von heute scheint nicht mehr das von vor fünf oder zehn Jahren: Ausländerfeindlichkeit, Euroskepsis, sogar der Sprachgebrauch hat sich verändert. Frau Murgia meint und will mit ihrem Buch nachweisen, in dieser Verwandlung sei die Rückkehr eines faschistischen Denkens zu erkennen.
Die Ausgangsthese
Das Buch baut auf einer These auf, die Frau Murgia kurz und knapp im Untertitel fasst: Faschist ist, wer faschistisch handelt. Der Text hilft dennoch nicht hauptsächlich bei der Ausarbeitung der Ausgangsthese, als vielmehr beim Herauskriegen, was der Begriff Faschist heute bei vielen Kreisen der italienischen Intelligenzia bedeutet. Die Lektüre führt zur ernüchternden Feststellung, dass die italienischen Intellektuellen, nach den sieben Jahrzehnten seit dem Ende des II. Weltkriegs, über die Bedeutung von Faschismus immer noch nicht im Klaren zu sein scheinen.
Unter dem Schleier einer nicht durchgehend geglückten Ironie, liefert Frau Murgia eine Aufstellung von Anweisungen bezüglich des Sprachgebrauchs und der politischen Massnahmen, die aus ihrer Sicht zur unvermeidlichen Restauration des Faschismus führen. Willst du zum Faschismus zurückkehren? Denn sag so, handle so und da bist du. Liest man die Verhaltens- und Redeweisen, die Frau Murgia für typisch faschistisch hält, so kommt im Umkehrschluss auch ihre Auffassung des Antifaschismus zu Tage.
Wer ein faschistisches Regime aufbauen will, der muss «jede Gelegenheit nutzen, um den Parlamentarismus und besonders das Verhältniswahlsystem schlechtzureden. Man soll als effizientere Lösung die Präsidialrepublik vertreten, zum Beispiel, wenn man Faschist sein will» und «für Wahlgesetze werben, die eine Konzentration der Stimmen auf individuelle, starke Figuren erzielen und den Konsens polarisieren, mindestens auf zwei Extreme» (Murgia, 13).
In der Vorstellung Murgias scheint Faschismus einer Präsidialrepublik mit zwei Parteien und starken führenden Persönlichkeiten an der Spitze zu entsprechen. Die Faschisten – so Murgia, 19 – «identifizierten die Dissidenten und fuhren ihnen über den Mund, indem sie an abgelegenen Stätten oder direkt im Gefängnis verhafteten, wo sie nicht mehr zu hören waren.» Niemand bestreitet, dass die Faschisten den Dissidenten das Wort abschnitten. Das Mundtotmachen von Andersdenkenden haben Faschisten, Kommunisten, die katholische Kirche, die südamerikanischen Regimes und viele andere gemeinsam. Stellt man fest, dass in einem Land die Opposition unterdrückt wird, so hat man zumindest ein halbes Dutzend Möglichkeiten, dass dort ein Regime herrscht, das sich nicht nur faschistisch, sondern kommunistisch, extremkatholisch oder islamistisch, bolivarianisch oder was auch immer nennen kann.
Über die Migration liefert Murgia ihre aussagekräftigsten Zeilen. Jeder, der eine ungesteuerte, unbeschränkte Immigration aus Afrika und den Entwicklungsländern in Frage stellt; ein jeglicher, der sich fragt, ob Einwanderer auch Probleme für den europäischen Arbeitsmarkt und die hiesigen Sozialsysteme darstellen könnten; derjenige, der leise aussetzt, dass so radikale Unterschiede bei Religion und Kultur mal zu Reibungen im Kontakt mit unserer offenen Gesellschaft führen könnten, der rufe nur Feindbilder hervor, die der Faschismus für sich nutzt (Murgia, 33), denn nur der Faschist «erkennt darin eine Gefahr» (Murgia, 40). Die einzige nicht-faschistische Alternative scheint, im Umkehrschluss, das Wegschaffen von Grenzen und Staatshoheit. Geschweige denn von denen, die meinen, Feministen und Homosexuelle könnten manchmal nicht in absoluter Wahrheit wohnen: Sie sind Faschisten ohne Wenn und Aber.
War Faschismus für Italien nicht genug schlecht?
«Das faschistische Narrativ über das Volk klingt so, wie es ihm gefällt: Das Volk sei standhaft in seinen Absichten, weich nur wegen der Umstände, Urgestein nationaler Authentizität und echter Hauptdarsteller der Gesellschaft […] Alles, was vom Volk kommt, ist gesund und wahr» (Murgia, 61). Ersetzt man Volk durch Arbeiterklasse, so könnte diese Darstellung vom Politbüro der UdSSR gezeichnet sein. Worin liegt das typisch faschistische Element, das Frau Murgia beim heutigen Populismus herausschälen will?
Nämlich erblickt die Autorin faschistische Redewendungen und politische Schachzüge allenthalben, im Italien der Gegenwart. Was kann faschistischer sein, als «alle Massnahmen, die das Erweitern von Immobilien zulassen oder Steuererleichterungen beim Kauf und Verkauf eines Hauses einführen», denn diese sind «unfehlbare Wege zum Konsens beim Kleinbürgertum. Je höher die bürgerliche Schicht, desto höher geht das Programm der Populisten, wie ein Soufflee, und es berührt den Brutplatz der Bourgeoisen: die Steuern. Wenn Sie Faschist sein wollen, sichern Sie zu, dass die höheren Einkommen nicht gekürzt werden» (Murgia, 65). Machen diese Massnahmen, aus einer Regierung, die sie beschliesst, eine faschistische? Ist ein Parlament, das «radikalen Reformen an den Schaltstellen des Staates, Änderungen an den Arbeitsverträgen zwecks niedrigerer Arbeitskosten oder Neuregelungen des Rentensystems mit mässigeren Beitragspflichten zulasten der Unternehmer» (Murgia, 66) zustimmt, ein Parlament von Faschisten? Der Begriff Faschismus hat doch einen Inhalt. Dieser scheint den Ausführungen Murgias nicht zu entsprechen. War Faschismus für Italien nicht genug schlecht? Bedarf es einer Erweiterung auf ergänzende Sachverhalte?
Gedenken die Demokraten der Opfer des Faschismus? So «gedenkt ihr [Faschisten] der Opfer der Foibe» (Murgia, 76). Frau Murgia bezieht sich auf die Opfer der sogenannten Foibe, der Karsthöhlen, in die jugoslawische Partisanen massenweise italienischstämmige Bürger des östlichen Grenzgebiets hineinschlachteten. Es sei gut und richtig, in der Auffassung Murgias, der Opfer des Faschismus zu gedenken, was übrigens niemand bestreitet; das Andenken an diejenigen, die durch die Hand Titos und eines kommunistischen Regimes ermordet wurden, sei allerdings das unverkennbare Merkmal eines Faschisten. Murgia scheint zu vernachlässigen, dass in den Foibe Tausende von Menschen, darunter Frauen und Kinder, grundsätzlich nicht wegen der Angehörigkeit einer politischen Partei ermordet wurden – was an sich schon tragisch genug wäre – sondern weil sie kulturell nach Italien hin orientiert waren und das kommunistische Jugoslawien ablehnten, in einer Zeit, in der alle, die gegen einen kommunistischen Staat aufstanden, pauschal als Faschisten bezeichnet wurden (und teilweise auch heute noch werden). Hier scheinen die Geschichtskenntnisse der Autorin noch ausbaufähig.
Die Botschaft
Die Schlüsselbotschaft ihres Buchs bringt Frau Murgia im Nachwort zum Ausdruck. Faschist ist, «wer Mauern errichtet, wer die Solidarität auf seine Mitbürger beschränkt, wer die Einen gegen die Anderen aufhetzt, weil damit beides beherrschen will; wer die bürgerlichen Freiheiten einschränkt, wer das Recht auf Migration mit der Waffe des Gesetzes und dem Vorwand der Verantwortung verweigert» (Murgia, 95). Antifaschist wäre demzufolge derjenige, nach der Auffassung Murgias, der unverantwortlich und ausserhalb des Gesetzes handelt – spricht, ein Aufständischer – denn das Gesetz sei eine Waffe gegen Migranten (also gegen die Unglücklichsten) und die Verantwortung gegenüber der Rechtsordnung nichts als ein Vorwand, um die Stärkeren zu schützen.
Das Konzept ist schon lange bekannt: Die Staatsordnung ist ein Herrschaftssicherungsinstrument in den Händen der Bourgeoisie und gehört zunichtegemacht. Schade für Frau Murgia, dass ihr Antifaschismus gar nicht demokratisch, sondern schlicht und einfach marxistisch ist. Nebenbei bemerkt: Ein allgemeines Recht auf Migration besteht in keinem Gesetzbuch und kann unmöglich bestehen. Von einer Autorin, die sich eine ohnehin ironisch, aber doch fundierte Gesellschaftsanalyse vornimmt, erwartet man solidere Rechtskenntnisse.
Was nun, wenn man alle oder fast alle Fragen des Faschistometers zustimmend beantwortet? Wird man zum echten faschistischen Helden bejubelt? Auch wieder nicht. Wer mindestens 51 aus den 65 Kästchen ankreuzt, ist Patriot. Fazit: Patriot gleich Faschist.
Das sind die Gründe, weswegen das Buch Murgias weniger über den Stand der italienischen Gesellschaft als vielmehr über jene italienische Intelligenzia verrät, die Faschismus überall dort sieht, wo sie nicht selbst gebietet; die verkennt, dass es nicht um Faschismus versus Marxismus, sondern um Rechtsstaatlichkeit versus Diktatur geht, egal wie man Letztere benennen will. Solche italienischen Intellettuali haben nicht mit dem Faschismus, sondern eben mit seinem Gegensatz, der Rechtsstaatlichkeit, immer noch ein Problem. Sie erkennen nämlich nicht, dass das Gegenteil von Faschismus kein Marxismus, sonder Freiheit in einer offenen Gesellschaft ist.
Frau Murgia bezeichnet als faschistisch Regierungsmassnahmen – obschon nicht ausdrücklich im Text genannt, sind sie dem Italienkenner gleich kenntlich – die von Regierungen beschlossen wurden, die man nicht von Ferne als faschistisch bezeichnen kann. Damit verrutscht Frau Murgia ihr Buch noch tiefer nach unten, von einer potenziell informativen Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen zu einem innenpolitischen Pamphlet, das mit überdimensionalen Begriffen spielt.
Murgia ist eine überzeugte Katholikin, die marxistische Thesen vertritt, indem sie alle Vorteile des freien Marktes und die Gemütlichkeit des kapitalistischen Abendlandes geniesst. In diesem Sinne, verkörpert die sardische Autorin wie kein Zweiter das Unterbewusstsein ihres Landes. In solch einem ideologischen Dreck festgefahren, bleibt Italien seit einem Jahrhundert das Schlusslicht des europäischen Westens.
Italien erlebt eine seiner unglücklichsten Stunden seit dem Ende des II. Weltkriegs. Das ehemalige Herz des europäischen Denkens und Wissens hat sich mit den eigenen Händen kulturell zugrunde gerichtet. Die Rechtsstaatlichkeit eines der Gründerstaaten der EU ist tatsächlich in Gefahr, indem er sich von der westlichen Gemeinschaft langsam abwendet, in den hungrigen Schoss Russlands abrutscht und mit den «autoritären Demokratien» in den Schlusswagen der Moderne gerät. Hierin liegt seine Schwäche. Die Italiener erkennen dies nicht und unterstützen mit einmalig hohen Zustimmungsraten Lokführer und Weichensteller, die den freudig dampfenden Zug durch neue Landschaften führen.
Dass die Italiener ihrer prekären Lage bewusst werden, ist nun von ihnen zu viel verlangt. Die Intellektuellen belustigen sich mit Wortspielen. Alle anderen sind damit beschäftigt, den Fragebogen des Faschistometers auszufüllen und die erlangte Punktzahl durch ihre Facebook-Chroniken herauszuposaunen. Siebzig Jahre Freiheit waren nur eine Verschwörungstheorie.
Ferdinand Kosak ha detto:
“Faschist ist, «wer Mauern errichtet, wer die Solidarität auf seine Mitbürger beschränkt, wer die Einen gegen die Anderen aufhetzt, weil damit beides beherrschen will; wer die bürgerlichen Freiheiten einschränkt, wer das Recht auf Migration mit der Waffe des Gesetzes und dem Vorwand der Verantwortung verweigert» (Murgia, 95). Antifaschist wäre demzufolge derjenige, nach der Auffassung Murgias, der unverantwortlich und ausserhalb des Gesetzes handelt – spricht, ein Aufständischer – denn das Gesetz sei eine Waffe gegen Migranten (also gegen die Unglücklichsten) und die Verantwortung gegenüber der Rechtsordnung nichts als ein Vorwand, um die Stärkeren zu schützen.”
Das ist doch eine vollkommen sinnfreie Dichotomisierung (es ist doch albern zu behaupten, dass Frau Murgia an dieser Stelle vorschlägt, das Antifaschismus notwendigerweise außerhalb des Gesetzes agieren muss um Antifaschismus zu sein.) und nur dieser Kunstgriff scheint den mutigen und nicht weiter begründeten Sprung zu rechtfertigen, dass Frau Murgia gleich Marxistin sein müsse.
Gleichzeitig wird Ihnen wohl auch bewusst sein, dass Frau Murgia phänomenologisch Patriotismus nicht mit Faschismus gleichsetzt und es an dieser Stelle lediglich ein Mittel der Zuspitzung ist, sich eben genau den Ausdruck, der von der neuen Rechten (einschließlich faschistischer Menschen) gerne genutzt wird um totalitäre und – ja – faschistische Weltbilder zu legitimieren, zu eigen zu machen.
Insofern frage ich mich, worauf der Kern Ihrer Kritik eigentlich zielt. Das bleibt für mich eher diffus. Denn wer, wenn nicht Intelektuelle soll denn den Diskurs über ein gesellschaftliches Phänomen führen, die Arbeiterschicht? Die Kritik an dieser Schicht aus dieser Heraus suggeriert immer es gäbe eine andere, echte Wahrheit über das gesellschaftliche Phänomen. Doch es sind lediglich Begriffe, mit denen versucht wird geselslchaftliche Phänomene zu beschreiben. Und ich denke da ist Frau Murgia ein durchaus eindrucksvolles Büchlein gelungen. Mit den Einschränkungen, die sie abschließend selbst niederschreibt.
Luca Lovisolo ha detto:
Ihre Bemerkungen lese ich leider erst heute. Ich bedanke mich dafür und bitte um Nachsicht für die späte Stellungnahme. Der betreffende Beitrag entstand aus redaktionellen Gründen in deutscher Sprache. Ich sehe ein, dass meine Ausführungen nicht völlig nachvollziehbar sein können, wenn der Hintergrund der Aktivitäten Murgias in Italien und das dortige kulturelle Umfeld nicht näher bekannt sind. Aus dieser Perspektive, bin ich mit Ihren Bemerkungen im grossen und ganzen auch einverstanden.
Ich erlaube mir, nur in einem Punkt widerzusprechen. Autoren wie Frau Murgia und eine Handvoll anderer sind in Italien zu prominenten Figuren geworden. Sie treten unablässig mit Kommentaren und neuen Schriften zu aktuellen Themen und Anlässen auf, nicht selten mit moralisierendem Gehabe, selbst auf Themengebieten, die erkennbar ausserhalb ihrer Kompetenzbereiche fallen. Das ist verständlich: Frau Murgia und ihre Kollegen müssen ihre Popularität ständig nachfüttern, sonst könnten sie von ihren Büchern nicht leben, so karg ist der Buchmarkt heute in Italien und sonst auch. Das kann man ihnen nicht übel nehmen, aber: Dass es zu einem solchen Zweck mit der Geschichte gespielt wird, und zwar mit einer der dunkelsten Zeiten Italiens und Europas im 20. Jahrhundert, geht m.E. zu weit.
Sie meinen, Frau Murgia habe bestimmte Begriffe nur als Mittel der Zuspitzung, also als rhetorisches Instrumentarium genutzt. Wer einen Begriff wie Faschismus fallen lässt, der muss wissen, was er tut. Mit dem Ihnalt der politischen Lehren tun sich schon Wissenschaftler schwer genug. Wenn Schriftsteller, Fernsehleute und sonstige Rampenlicht-Süchtiger geschichtsträchtige Begriffe mit willkürlichen Inhalten füllen, weil sie damit Aufmerksamkeit auf sich selbst erregen wollen, dann verliert sich die Verknüpfung an die Realität. Wenn es um Faschismus, Nazismus und ähnliche schwarze Seiten der Geschichte geht, sollte ein Autor von ihrer Verwendung zu rein rhetorischen Zwecken eher absehen. Da wird es, heute so gefährlich wie noch nie, mit dem Feuer gespielt. Die Deutungshoheit sollte bei den Wissenschaftlern bleiben. Für Zuspitzungen und Provokationen stehen doch auch andere Mittel zu Verfügung.
Übrigens hat das betreffende Buch seiner Autorin nicht nur meine bescheidenen Bedenken eingetragen. Das Werk ist allem Anschein nach als Marketingeinfall für das Weihnachtsgeschäft erschienen und ein solcher auch geblieben. Es ist aus meiner Sicht bedauerlich, dass einer der führenden Verleger Italiens sich auf einen solchen Vorgang eingelassen hat. Ich habe dieses Verlagshaus, mit dem ich aus persönlichen und familiären Gründen immer besonders verbunden gefühlt habe, vor diesem Ausrutscher höher geschätzt. Freundliche Grüsse. LL